«Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich den Schmerzensmann»
Der Stäfner Michael Drobny muss nach 35 Jahren sein Haus verlassen. Für den Künstler bedeutet das die Amputation seiner Seele. Die Eigentümer pochen auf ihr Recht. Von Marcus May
Stäfa – Ein Narr fragt: «Und die Kunst, Michael, wo bleibt die Kunst?» – «Sieh dich um, meine Kunst umgibt dich!», entgegnet Michael Drobny. Seit 35 Jahren sammelt der Tscheche alles, womit er sich philosophisch oder künstlerisch auseinandersetzt. Jedes Kleinod, und sei es nur eine spontan hingeschmierte Skizze, findet seinen besonderen Platz im Haus an der Stäfner Rhynerstrasse. Das alte Gebäude droht aus den Nähten zu platzen. Auch der Garten bleibt nicht verschont. Aus einer Falschlieferung Holz etwa – sechs Ster wurden vor 30 Jahren geliefert – ist eine permanente Skulptur entstanden. Zeitungsstapel, mittlerweile mit Flechten überwachsen, erklärt Michael Drobny kurzerhand zum Kunstwerk – zu einer Zeitskulptur. Der liebenswerte Freak Damit ist jetzt Schluss. Der Hausteil an der Stäfner Rhynerstrasse steht heute fast leer, der Haussegen hängt schief, die Stimmung ist am Boden. Der Künstler, Fotograf und selbst ernannte «Anarchitekt» muss weg – die Erben des Hausteils haben ihm gekündigt. Noch vor Monatsfrist waren die drei Stockwerke des Hauses vollgepfercht mit Sammelstücken: Bücher, Schallplatten, Fotografien, Armeen von Figurinchen, Masken, Marionetten, Puppen, Devotionalien, Schachfiguren und -bretter sowie stapelweise alte Zeitungen. Die Liste der Sammelsurien liesse sich beliebig erweitern: Im Lauf von 35 Jahren kommt viel zusammen. Zu jedem Stück, das herumliegt, und scheint es noch so bedeutungslos, hat Michael Drobny eine Geschichte zu erzählen. Böse Zungen würden den 65-Jährigen als «Messie» bezeichnen; wer dem Bärtigen wohlgesinnt ist, nennt ihn einen liebenswerten Freak, hinter dessen Sammelwut sich philosophische Gedanken, Freude und künstlerische Neugierde, aber auch viel Traurigkeit verbergen. Im vermeintlichen Chaos herrscht Ordnung. Alles ist säuberlich an seinem Platz. Was auf den ersten Blick wie Ramsch aussieht, ist Erinnerung, Kunst, ein Statement. «Diese Sachen sind alles, was ich besitze. Sie sind mein Eigentum. Das, was mich ausmacht. Ich habe es erschaffen. Warum sollte ich es jetzt loslassen?» Etwa ein Tausendstel der Ware im Haus habe er entsorgt, den Rest versucht er irgendwo einzulagern. Als Michael Drobny, Freidenker aus dem tschechischen Brünn, Ende der Sechzigerjahre seine Heimat verlassen musste, trieb es ihn durch halb Europa, ehe er sich mit seiner rumänischen Freundin in der Schweiz niederliess. Dass es ausgerechnet Stäfa sein würde, war so nicht beabsichtigt. Die Einheimische Margrit Gujer nahm das Paar bei sich auf. Man gewöhnte sich aneinander, lernte sich schätzen und begann, sich zu mögen, und so blieb Drobny mit seiner Partnerin am Stäfner Frohberg. Tochter Ajana, heute 31-jährig, kam im Haus auf die Welt und wuchs dort auf. Erst Jahre später verliessen Frau und Kind das Haus und zogen nach Zürich. Michael Drobny blieb. In einem Haus, das bereits viel erlebt hat. Der deutsche Deserteur 1791 erbaut, beherbergte das ehemalige Bauernhaus im Ersten Weltkrieg einen deutschen Deserteur. Im zweiten grossen Krieg sollen – so geht die Legende – flüchtige Juden dort untergekommen sein. Als das junge Hippie-Paar aus dem Osten dort einzog, wusste Drobny nicht, dass er fast den Rest seines Lebens dort verbringen und dem Haus damit einen weiteren bleibenden Stempel aufdrücken würde. Er begann damit, sein neues Zuhause zu verändern, es sich anzueignen. Und seine Vermieterin unterstützte ihn dabei. Als Margrit Gujer ihn einmal fragte, was es ihn denn gekostet habe, jene Wand herauszuschlagen, antwortete er: «Eine Woche meines Lebens!» Da habe sie ihm augenzwinkernd 50 Franken in die Hand gedrückt. Drobny weiss, dass er nicht mehr lang zu leben hat. Es steckt eine heimtückische Krankheit in ihm drin. Er hatte die Eigentümer – entfernte Verwandte der Margrit Gujer – um Aufschub gebeten. Erkämpft hat er sich diesen schliesslich bei der Schlichtungsbehörde, die ihm weitere zwei Jahre gewährte. «Das haben mir die Vermieter nie verziehen», sagt Drobny heute. Er hätte sich gewünscht bis Weihnachten bleiben zu dürfen, um den Umzug zu einem geregelten Abschluss zu bringen. «Eigentlich hätte er das Bleiberecht für den Rest seines Lebens verdient», ergänzt seine Freundin Franziska, eine 59-jährige Musikerin aus Stäfa. Doch man zwingt den alten Mann dazu, nochmals von vorne anzufangen. Der russische Grossmeister Dabei fühlt er sich entwurzelt und vertrieben. Das sei schlimmer als eine Umsiedlung. «Denen damals» sei immerhin eine Bleibe am Bestimmungsort angeboten worden, sagt er. Er aber stehe vor dem Nichts. «Nicht, dass es mir hier noch besonders gefallen würde, aber ich kenne nichts anderes.» Um erneut Wurzeln zu schlagen, brauche es Zeit, Raum und Energie. An allem fehlt es Drobny. «Die Zeit dafür habe ich nicht mehr.» Und den Raum kann sich der AHV–Bezüger schlicht nicht leisten. Vielleicht werde er noch ein paar Monate ausgepumpt vor sich hinsiechen und dann an gebrochenem Herzen sterben, sagt er. Michael Drobny hat sich mit dem Älterwerden arrangiert. Nichts sei mehr neu, alles bestehe nur noch aus Wiederholungen. «Das einzig wirklich Neue ist der Umgang mit den körperlichen Gebrechen, die sich langsam häufen», sagt er. Daran werde sich auch in Zukunft nichts ändern. Mit den Menschen sei es ähnlich: «Warum sollte ich als Künstler und Mensch plötzlich beachtet, geschweige denn geachtet werden?» Einzig das Schachspiel und der 3-jährige Enkel Karl machten sein Leben noch lebenswert. Auch da ist er ein Angefressener. Drobny nimmt ein altes Einmachglas mit der Plazenta des Jungen in die Hand. Hier im Haus sei der Karl geboren worden. «Es ist ungemein spannend, ihn aufwachsen zu sehen.» Während des Zügelns habe ihn der Kleine einmal gefragt: «Opa, wann sind die Wände dran?» Das zeige deutlich, wie sehr auch der Enkel am alten Haus hänge. Beim Schachspielen habe er gemerkt, dass der Mensch nie zu alt zum Lernen sei. «Da will ich immer mehr wissen, das fasziniert mich.» Davon zeugen auch die 3000 Schachbücher, die er sein Eigen nennt. Beim Schachspiel, das Drobny seit zehn Jahren ernsthaft betreibt, fühlt er sich wohl, geborgen. Es ziehe ihn weg von der Realität. «Dann existiere ich parallel zur Wirklichkeit.» Übrigens: Der russische Grossmeister Artur Jussupow hat sich seiner angenommen, wurde vor Jahren sein Lehrer. Drobny braucht die vielen Tausend Sachen, die sich im Laufe der Jahre um ihn angehäuft haben, wie die Luft zum Atmen. «Ich bin kein Yogi, kein Zen-Mönch, der nichts Materielles mehr zum Leben braucht.» Er arbeite schliesslich mit Materie und sei kein «Homme de Lettres». Seine Muttersprache spricht er nur noch selten. «Tschechisch spricht sich wie von selbst, Deutsch muss ich sprechen; das fällt mir manchmal schwer.» Kaum zu glauben, wenn man Drobnys wunderbare Gedichte liest oder Zeuge davon wird, wie er aus ihnen am Piano Lieder entstehen lässt. Die wilde Entschlossenheit Tonnenweise Ware und Material hat Michael Drobny unter Mithilfe einiger Bekannter und seiner Freundin mittlerweile aus dem Haus geschafft. In ein Lager ganz in der Nähe. Seine Vision: Der Lagerplatz geht im Lauf der Zeit vergessen. In 50 Jahren wird er von spielenden Kindern wieder entdeckt. Sie treffen auf ein Wunderland, eine völlig andere Welt. Drobnys Welt, die zu ihrem grossen Geheimnis wird, das sie erforschen und bereisen. Nie würde ein Erwachsener je davon erfahren. «Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich den Schmerzensmann», sagt der Künstler und gestikuliert mit seinen grossen Händen. «Da beobachte ich, wie er mich anschaut; er sieht mir in die Augen.» Dabei erblicke er den Schmerz in seinem Spiegelbild – er sieht ihn, bevor er ihn spürt. Freundin Franziska erspäht da etwas anderes: die wilde Entschlossenheit in seinen Augen. Die Entschlossenheit, den Weg beharrlich zu Ende zu gehen. Am 1. Oktober – dem Stichtag seines Auszugs – legten ihm die Sozialbehörden eine Vereinbarung vor. Darin verpflichtet sich Drobny, bis Mitte Monat endgültig auszuziehen. Er brachte in der Übereinkunft eine für ihn wichtige Änderung an: Die am vereinbarten Termin noch übrig gebliebene Ware solle nicht etwa entsorgt, sondern weggeschafft werden – sie sei schliesslich sein Eigentum. Die Sozialbehörde – die sich übrigens zum laufenden Verfahren den Medien gegenüber nicht äussern will – lud ihn gestern vor. Auch die Eigner hätten einen Änderungswunsch vorgebracht, hiess es: Jedes Stück, das er weggeschafft haben wolle, müsse er deutlich kennzeichnen. Am Auszugstermin ändere das aber nichts. Wenn Michael Drobny nicht mitmacht, droht ihm die Zwangsräumung. Ein volles Haus. Da war Michael Drobnys Welt noch im Lot. Foto: Daniel Kellenberger
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch