Wochenduell: Berichterstattung aus TokioZeigt das Schweizer Fernsehen zu viel Olympia?
Judo, Kanu, Schiessen: 300 Stunden Livesport werden auf neun Sendern von den Sommerspielen in die Schweizer Stuben transportiert. Wäre weniger mehr?

Ja: SRF versucht es mit Quantität statt mit Qualität. Die fehlende Erfahrung kann so aber nicht kaschiert werden
Thomas Frischknecht jammert am Ende des Mountainbikerennes: «Isch de Nino debii? Nei. Ai, ai, ai, das isch jetzt aber schaad.» Fussballfachmann Sascha Ruefer schreit während der Beachvolleyball-Gruppenphase ins Mikrofon: «Monsterblock!» Und Christoph Sterchi und Christoph Mauch sagen während des Triathlonrennens nicht besonders viel, während sich die Athletinnen durch den Regen und das triste Tokio kämpfen.
300 Stunden überträgt das Schweizer Fernsehen von den Spielen live, danach wird im Studio bei den «Tokyo Highlights» und bei «Tokyo konpakuto» alles nochmals beleuchtet und hinterfragt. Währenddessen transportieren neun zusätzliche Streams das Geschehen aus dem Skatepark, der Judohalle und vom Schwimmbecken in die Schweizer Stuben. SRF setzt während der Olympischen Spiele auf Quantität – und vergisst dabei die Qualität.
Immer und überall dabei sein, damit nachher ja keiner sagen kann, er habe die Entscheidung beim Segeln oder die heisse Phase beim Klettern verpasst: Dies ist die falsche Strategie. Während in Leutschenbach die Besten wie Steffi Buchli und Matthias Hüppi schon lange weg sind und auch Stefan Bürer, Jann Billeter und Heinz Günthardt bald nicht mehr dabei sein werden, versucht man den Verlust an Fachwissen und Erfahrung mit der Anzahl übertragener Stunden und mässigen Einschätzungen von ehemaligen Schweizer Profisportlern zu ersetzen. Diese sitzen nicht in Tokio am Streckenrand, sondern in Zürich im Tonstudio.
So kann das nicht funktionieren. Denn der Zuschauer will nicht nur auf dem Spielfeld oder der Rennstrecke Figuren sehen, sondern diese auch am Mikrofon hören und bei der Nachbesprechung vor der Kamera sehen, live vor Ort, während die Athleten im Hintergrund zum Interview schreiten. Die Realität bei SRF ist eine andere – und sie wird noch viel prekärer.
Nach den vielen Abgängen soll die Stimmung in der SRF-Sportredaktion angespannt sein. Heinz Günthardt sagte nach der Bekanntgabe seines Endes beim Fernsehen: «Selbstverständlich geben die diversen Abgänge zu reden. In den Gängen wird darüber diskutiert.» Jann Billeter sagte dem «Tages-Anzeiger», dass man es in den Büros spüre, das gespart werden müsse. Immer weniger Leute müssten immer mehr machen, das sorge für schlechte Stimmung.
Das alles überträgt sich auf den Bildschirm, bewusst oder unbewusst. Und dann ist es auch egal, ob 300 oder 3000 Stunden live aus Tokio gesendet werden. Tobias Müller
Nein: SRF serviert ein Olympia-Menü mit Schweizer Grundzutaten und internationalen Zückerchen – das ist wichtig für den Schweizer Sport
Selten ist SRF für Schweizer Sportfans derart wichtig wie jetzt. Die Fussball-EM funktioniert auch bestens auf ARD, ZDF oder gar ORF. Auf allen Sendern werden dieselben Spiele übertragen, die Experten und Kommentatoren sind sicher nicht schwächer als im Schweizer Fernsehen. Doch während Olympia interessiert Belinda Bencic in der Heimat deutlich mehr als Jan-Lennard Struff. Der Schweizer Sport braucht bei den Olympischen Spielen den Blick aus der Schweiz.
SRF 2 funktioniert dabei als ordnende Instanz. Der Sender führt die Zuschauer durch den unübersichtlichen Dschungel aus 33 Sportarten, unzähligen Qualifikationen, Hoffnungsläufen, Team-, Mixed- und Doppel-Konkurrenzen. Der Sender pickt sich die Filetstücke aus dem grossen Olympia-Menü, achtet dabei darauf, dass die Grundzutaten aus der Schweiz stammen, und garniert das Ganze mit internationalen Zückerchen.
So verpasst der klassische TV-Zuschauer bei SRF keinen Moment, der für den Schweizer Sport von Bedeutung ist. Die Kommentatoren bringen ihm auch eher unbekannte Disziplinen näher, oft mithilfe eines Experten, der tiefe Einblicke in die schattigeren Ecken der Sportwelt ermöglicht. Mit grosser Übersicht wird dabei zwischen den Hallen und Stadien hin und her gewechselt. Der Vorteil der Schweiz: Während ARD und ZDF kaum nachkommen, um von Landhockey bis Tontaubenschiessen alle deutschen Medaillenhoffnungen abzudecken, bleibt bei rund 120 Schweizer Olympioniken auch Zeit, um auf internationale Highlights zu blicken. Wenn etwa Frankreich die grossen US-Amerikaner im Basketball besiegt, ist SRF 2 live dabei.
Doch auch in Leutschenbach ist man sich bewusst, dass lineares Fernsehen für einen grossen Teil der Bevölkerung kein Thema ist. Und so kann sich der internetaffine Sportfan auf der Website von SRF sein ganz eigenes Olympia-Programm zusammenstellen. Auf bis zu neun Kanälen kann er auch jene Events verfolgen, die nicht eine grosse Öffentlichkeit interessieren.
Diese umfassende Berichterstattung mit rot-weisser Brille ist für den Schweizer Sport Gold wert. Insbesondere Athleten aus kleineren Sportarten leben davon, dass sie zumindest einmal alle vier Jahre im Schaufenster stehen. Hier finden sie die Motivation für die unzähligen Trainingsstunden, hier bietet sich die Gelegenheit, sich für Sponsoren interessant zu machen. Würde SRF den Fokus nicht mehr derart auf Olympia legen, müssten zahlreiche Sportler um ihre Lebensgrundlage fürchten – und drohten noch mehr Randsportarten aus der Schweiz zu verschwinden. Fabian Löw
* Das Wochenduell: Die «Basler Zeitung» stellt sich ab sofort in regelmässigem Abstand Themen, die die Sportwelt bewegen – und beleuchtet dabei in einem Pro und einem Kontra beide Seiten. Zuletzt erschienen: Braucht es die Conference League wirklich?Gehören Zuschauer ins Stadion?Holt sich Roger Federer nun sogar den Titel?Werden die Schweizer nun Europameister?War die Europameisterschaft bisher ein Fussballfest?
Tobias Müller schrieb seinen ersten Artikel für die Basler Zeitung im Jahr 2011 und ist seit 2018 als redaktioneller Mitarbeiter tätig. Er beschäftigt sich vor allem mit Themen aus der Leichtathletik, dem Fussball sowie dem Freizeitsport.
Mehr InfosFehler gefunden?Jetzt melden.