Wochenduell zur Eishockey-WMZählen die Schweizer im Eishockey zu den Grossen?
Die Schweizer Nationalmannschaft ist im WM-Viertelfinal gegen Deutschland (Donnerstag, 15.20 Uhr, SRF 2) Favorit. Doch gehört sie auch schon zu den ganz grossen Nationen des Sports?

Ja: Die Schweiz muss sich nicht mehr verstecken. Sie kann die grossen Nationen mittlerweile nicht mehr nur ärgern, sondern sie sogar dominieren.
Sechs Siege aus sieben Spielen – die Schweizer Nationalmannschaft sorgte in der Vorrunde der Weltmeisterschaft in Riga für Furore. Wurde in früheren Jahren noch das Ziel ausgerufen, wenigstens den Viertelfinal zu erreichen, trauten dieses Jahr nicht wenige der Auswahl von Trainer Patrick Fischer bereits vor dem Turnier den Titel zu.
Die bisherigen Auftritte von Ambühl, Hischier, Fiala und Co. rechtfertigten, dass man durchaus träumen darf. Nahe dran war man ja bereits, mit Silber 2013 und 2018. Doch selbst wenn der grosse Wurf nicht gelingen sollte – immerhin wartet mit Deutschland im Viertelfinal bereits der grosse Angstgegner der letzten Jahre –, gehört die Schweiz im Eishockey mittlerweile zu den ganz grossen Nationen.
Auch – aber nicht nur – die Klassifizierung des Schweizer Teams in der Weltrangliste untermauert dies: Vergangenes Jahr startete man als Sechster, dieses Jahr als siebtbestes Team in die Endrunde. Besser platziert sind mit Kanada, Tschechien, den USA, Schweden, Russland und Finnland nur jene Nationen, die seit je das internationale Geschehen dominieren. Und ja, sie alle dürfen sich im Gegensatz zur Schweiz nicht nur Weltmeister, sondern gar Olympiasieger nennen, was im Eishockey ja bekanntlich einen noch höheren Stellenwert geniesst.
Doch mehr und mehr zeichnet sich ab, dass die Schweiz sich vor diesen Nationen nicht mehr verstecken muss. Galt früher noch die Devise, gegen die Grossen durch eine möglichst defensive Spielweise möglichst wenig Gegentore zu kassieren und so die Chance auf einen Sieg zu wahren, werden solche Gegner mittlerweile mitunter dominiert: so jüngst geschehen bei den Auftritten an der aktuellen WM gegen Kanada und Tschechien, insbesondere Erstere wurden phasenweise von der Schweizer Auswahl überrollt.
Selbstverständlich sind solche Erfolge nicht nur durch die positive Entwicklung der heimischen Liga zu erklären, sondern auch durch den Status, den Schweizer Spieler mittlerweile in der NHL geniessen. Immer mehr schaffen den Sprung in die beste Liga der Welt, andere gehören gar zu den Besten auf ihrer Position.
So verwundert es nicht, dass eine Schweizer Auswahl, die aktuell mit fünf Profis aus der NHL aufläuft, auch an einer WM zum Favoritenkreis zählen kann. Wird die Nachwuchsarbeit so erfolgreich weitergeführt wie in den letzten Jahren, wird dies der positiven Entwicklung der Schweizer Nationalmannschaft keinen Abbruch tun – und die Schweiz wird sich nicht nur mittel-, sondern langfristig unter den grössten Nationen im Eishockey etablieren. Benjamin Schmidt
Nein: Der grosse Titel fehlt. Und selbst wenn die Schweiz diesen holt, bleibt man bis auf weiteres nur der David, der ab und zu den Goliath fällt.
Wenn die Schweiz mit dem Viertelfinal-Spiel gegen Deutschland in die entscheidende Phase des WM-Turniers einbiegt, dann tut sie dies als Titelanwärter. Darauf lassen die Resultate aus den Gruppenspielen schliessen, wo auf dem Weg zum ersten Platz mit der Slowakei nicht nur der Olympia-Bronzegewinner 2022, sondern mit Kanada und Tschechien auch die Nummern 2 und 6 der aktuellen IIHF-Weltrangliste geschlagen wurden.
Das sind zwei der sechs wirklich grossen Eishockey-Nationen. Hinzu kommen Finnland, Schweden, die USA und Russland, das an diesem Turnier aus politischen Gründen aussen vor bleiben muss. Das Welteishockey kennt zwar mit der Schweiz einen Siebten im Ranking – aber keinen siebten Grossen, den man hier ernsthaft dazuzählen darf.
Natürlich gibt es Argumente, die dazu verleiten, es trotzdem zu tun. Die Tradition etwa. Oder die Popularität der eigenen Liga. Und ganz bestimmt die Entwicklung in den vergangenen vier Jahrzehnten, die bisher in zwei WM-Silbermedaillen gipfelte.
Es ist eine einzige Erfolgsgeschichte, der nur noch der Titel fehlt. Doch selbst wenn man diesen holt, so bleibt man bis auf weiteres der David, der ab und an einen Goliath fällt. Das sagen gewisse Parameter überdeutlich. Da sind die lizenzierten Spieler: Jede der sechs Top-Nationen hat mindestens doppelt so viele wie die Schweiz. Da sind die Medaillen: Jede der sechs Top-Nationen hat mindestens einen Oympiasieg und zwei Weltmeistertitel vorzuweisen – und jede ausser Tschechien hat selbst seit dem Schweizer Silber 2013 mehr Medaillen an Grossanlässen gewonnen als die Nummer 7 der Welt. Und da ist die National Hockey League.
Sie ist das Mass aller Dinge. Es spielen auch Schweizer in ihr. Einige wenige sind gar Stars. Aber wenn man die Qualität einer Eishockey-Nation in ihrer Breite, ihre Kraft und ihr Zukunftspotenzial messen will, dann lohnt sich ein Blick auf den NHL-Draft – also darauf, wie viele Spieler pro Jahr rekrutiert werden. In den vergangenen fünf Jahren wurden addiert 393 Kanadier, 253 US-Amerikaner, 138 Schweden, 123 Russen, 85 Finnen und 33 Tschechen gezogen. Dem gegenüber stehen 9 Schweizer Talente, die das ebenfalls schafften.
Es sind zwei weniger, als das deutsche Eishockey produziert hat. Und Deutschland ist trotz Olympiasilber 2018 kein Grosser. Aber Gegner im WM-Viertelfinal, am Donnerstag ab 15.20 Uhr. Erwartet wird ein Duell auf Augenhöhe. Weil es genau das ist – und zwar in jeder Beziehung. Oliver Gut
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