Yvan der Verletzliche
SVP-Politiker Yvan Perrin ist gesundheitlich angeschlagen. Seine Verletzlichkeit soll nun seine Stärke sein.
Yvan Perrin, Kandidat für den Neuenburger Staatsrat, ist schwer krank. Amtsunfähig. Diesen Eindruck erhält, wer dieser Tage «Le Matin» liest. Die Zeitung schilderte in ihrer Mittwochsausgabe detailliert, in welch pitoyablem Zustand Perrin kurz vor Weihnachten in dem von seinen Eltern geerbten Haus im Bauerndorf La Côte-aux-Fées aufgefunden wurde: tief depressiv, mit einem gefährlichen Cocktail von Alkohol und Psychopharmaka betäubt. Der Nationalrat soll nicht einmal mehr die Fragen verstanden haben, die man ihm stellte. «Im Spital mass man Stunden später noch immer 3 Promille Alkohol im Blut», schreibt die Zeitung. Dehydriert landete Perrin auf der Intensivstation. Und am Ende beim Psychiater.
In der Deutschschweiz müsste Perrin, der 2010 an einem Burn-out erkrankt war, das Wahlkampfterrain verlassen. Andernfalls würde er wohl von seiner Partei aus dem Verkehr gezogen. Nicht so in Neuenburg. Da darf Perrin bis auf weiteres kandidieren, unterstützt und getragen von seiner Partei.
Trennung von Privatem und Öffentlichem
Der Grund für das unterschiedliche Handeln liegt im jeweiligen kulturellen Selbstverständnis. In der lateinischen Welt gilt der Mensch als unvollkommen und verletzlich. Deshalb darf er Schwächen zeigen, Fehler begehen – und damit rechnen, dass die Allgemeinheit grosszügig mit seinen Verfehlungen umgeht.
Anders in germanofonen Kulturraum. Hier sind Disziplin und Selbstbeherrschung hohe Güter, das Streben nach Vollkommenheit allgegenwärtig. Von einem Amtsträger erwartet man, dass er die Tugenden als Vorbild vertritt. Wer die Beherrschung verliert oder sich Disziplinlosigkeit leistet, muss Abbitte leisten, was meist in einem Rücktritt endet.
In der Romandie gibt es noch eine weitere Auffälligkeit. Wie in Frankreich wird in der Westschweiz das private vom öffentlichen Leben in der Regel streng getrennt. Es herrscht eine Art Grundkonsens darüber, dass Privates insbesondere dann nicht an die Öffentlichkeit gehört, wenn es sich nicht von selbst als Problem bemerkbar macht. Auch die Medien halten sich in der Regel daran.
Folgenschweres Silvester
So erfuhr die Öffentlichkeit von den privaten Problemen des 2012 zurück- getretenen Genfer Baudirektors Mark Muller (FDP) lange Zeit nichts. Zudem soll Muller in seinem Departement stets den guten Auftritt gesucht, es organisatorisch aber nicht wirklich im Griff gehabt haben. Auch die durch die Medien gezogene Tatsache, dass er als Baudirektor in einer 7-Zimmer-Wohnung wohnte, für die er läppische 1800 Franken bezahlte, konnte ihm nichts anhaben.
Erst als er sich an Silvester vor einem Genfer Nachtclub mit einem Barmann prügelte und dieser die Justiz einschaltete, hatte Muller die Grenze des Tolerierbaren überschritten. Einen Staatsrat, der einen Mitmenschen schlägt, akzeptierte die Öffentlichkeit nicht mehr. Muller wollte die Affäre aussitzen und kapitulierte dann doch.
Die 2009 zurückgetretene Neuenburger SP-Stadträtin Valérie Garbani hielt das Prinzip der menschlichen Verletzlichkeit im Amt. 2004 gewählt, fiel Garbani, weil stark betrunken, in der Öffentlichkeit wiederholt negativ auf. Auf einem ihrer nächtlichen Streifzüge wurde sie sogar gegen Polizisten handgreiflich. Das Volk akzeptierte die Probleme, schenkte ihr weiter das Vertrauen und bestätigte sie 2008 im Amt. Erst als die Justiz sie wegen Beleidigung und Drohungen gegen die Polizei verur- teilte, trat Valérie Garbani von selbst zurück.
Vom Patient zum Kämpfer
Und wie verhält sich der angeschlagene Yvan Perrin, der in den Staatsrat will? Der ehemalige Polizeiinspektor, der gerne dominant auftritt, viel und gerne austeilt, gerade gegen Schwächere, gesteht der Öffentlichkeit plötzlich seine Unvollkommenheit ein und verweist auf seine verletzlichen Seiten. Perrin bezeichnete sich jüngst als «hypersensibel» und «psychisch fragil».
«Manchmal weine ich, na und?», sagte er einem Journalisten an. Yvan der Verletzliche. Vielleicht stehen die Neuenburger ja gerade diesem Perrin sehr nahe. Von Rückzug will der Politiker jedenfalls nichts wissen, sondern mit einem Gesundheitsbulletin beweisen, dass mit ihm alles in Ordnung ist. Um aus dem Patienten Perrin wieder den Kämpfer Perrin zu machen, der er bis vor kurzem noch war.
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