Wozu gähnen wir?
Das Phänomen Gähnen ist trotz 30 Jahren intensiver Forschung ein Rätsel. Jetzt bestreitet ein australischer Forscher sogar, dass das Verhalten ansteckend sei.

Diese Aufgabe war neu für Alexandra, die Köhlerschildkröte. Forscher der Universität Wien konditionierten sie darauf, beim Anblick eines roten Plastikquadrates geradeaus herauszugähnen. Alexandra machte das gut, doch das war der leichtere Teil des Experiments. Alexandra sollte ihr Gähnen nämlich ihren sechs Artgenossen Moses, Aldous, Wilhelmina, Quinn, Esme und Molly vormachen – um diese mit Gähnen anzustecken. Doch das Experiment misslang trotz mehrerer ausgeklügelter Versuchsanordnungen. Der Schluss, den die Forscher am Ende ziehen mussten, war deprimierend: «Unsere Resultate legen nahe, dass das Gähnen bei Köhlerschildkröten nicht ansteckend ist.»
Gähnende Schildkröten stecken ihre Artgenossen nicht an. Video: Youtube
Die 2011 im Fachjournal «Current Zoology» veröffentlichte Arbeit droht einem Bericht im amerikanischen Webmagazin «Slate» zufolge einem Forschungsfeld den Boden unter den Füssen wegzuziehen, das in den vergangenen Jahren einen grossen Aufschwung erlebt hat: die Erkenntnis, dass Gähnen beim Menschen und auch einigen Tierarten ansteckend ist. Vor einem Monat publizierte der australische Forscher Rohan Kapitany im Fachblatt «Adaptive Human Behaviour and Physiology» eine Studie, in der er das gesammelte Wissen darüber infrage stellte.

Gut möglich, dass Sie nun schon gähnen mussten, denn dass Menschen sich von allen Formen des Gähnens – echtes Gähnen, Videos vom Gähnen, Texte über das Gähnen und so weiter – anstecken lassen, glaubt man seit etwa 30 Jahren zu wissen. Wieso wir aber überhaupt gähnen, ist nämlich noch immer ein ungelöstes Problem. Verschiedene Ursachen wie zum Beispiel eine physiologische Regulationsfunktion des Gehirns, das Wachhalten oder ein alternatives Atmen bei Sauerstoffmangel wurden diskutiert, doch die experimentellen Daten verbannten diese Hypothesen ins Reich der Mythen. Tatsache ist nur, dass wir Menschen und auch die meisten Wirbeltierarten gähnen.
Die Katzenmutter und ihre Kinder gähnen nacheinander. Video: Youtube
In den 80er Jahren war der amerikanische Psychologe Robert Provine der Erste, der zeigen konnte, dass Versuchspersonen eher von Gähnvideos zum Gähnen verleitet wurden als von Videos mit lachenden Menschen zum Lachen. Das Verhalten, so die Forscher, muss eine evolutionäre Wurzel haben – etwa als eine Frühform der Empathie. In der Folge wurden in weiteren Arbeiten Hinweise darauf gefunden, dass Gähnen auch bei Schimpansen, domestizierten Hunden, Ratten und möglicherweise sogar bei Wölfen und Affen ansteckend sein könnte. Seither gilt ansteckendes Gähnen sogar als ein Zeichen für Tierarten mit höherem Bewusstsein. Wer gähnt, so das neue Paradigma, verfügt über eine «Theory of mind», die Fähigkeit also, sich in jemand anderen hineinzuversetzen.
Schimpanse gähnt beim Betrachten eines Gähnvideos. Video: M. Campbell and F. de Waal 2014/Yerkes National Primate Research Center/Emory Univ./Youtube
Das Feld breitete sich fast schon infektiös in andere Forschungsdisziplinen aus, von den Neurowissenschaften über die Evolutionspsychologie bis zur Verhaltensforschung. Der Neurowissenschaftler Wulf Rössler etwa von der Universitätsklinik Zürich konnte 2012 mittels MRI-Studien zeigen, dass beim ansteckenden Gähnen die sogenannten Spiegelneuronen aktiviert sind, die nur schon beim Betrachten einer Bewegung feuern. Andere Forscher fanden heraus, dass autistische Kinder oder Erwachsene mit psychischen Problemen sich weniger durch das Gähnen anderer anstecken lassen. Frauen dagegen liessen sich schneller anstecken, sie gelten ja auch als emphatischer. Solche Geschlechtsunterschiede fanden sich sogar bei Wölfen. Zoologen ziehen heute sogar Gähnstudien heran, um festzustellen, wie sozial eine Tierart ist.
Ist ansteckendes Gähnen ein Zeichen für ein höheres Bewusstsein? Video: Youtube
Doch viele dieser Resultate sind anekdotisch oder liessen sich bisher nicht wiederholen. Im vergangenen September zum Beispiel kamen Forscher der Universität Wien zum Schluss, dass es beim Gähnen keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Der renommierte Evolutionsbiologe und Primatenforscher Frans de Waal bemängelte in einer Publikation von 2010, dass in der Gähnforschung ein untereinander schwer vergleichbares Set von Methoden benutzt werde. In diese Bresche nun schlägt der junge Psychologe Rohan Kapitany, der derzeit ein Postdoc an der englischen Universität Oxford absolviert.
Kapitany glaubt, dass die ganzen Forschungsergebnisse auf einer Fehlinterpretation der Daten beruhen könnte. Was als ansteckendes Gähnen bewertet werde, sei in Tat und Wahrheit nur spontanes, natürlich auftretendes Gähnen. Um seine Hypothese zu prüfen, simulierte er die Ausbreitung des Gähnens mithilfe eines agentenbasierten Modells virtuell unter verschiedenen Annahmen. Dabei zeigte sich, wie schwierig es selbst für Forscher ist, spontanes von «ansteckendem» Gähnen zu unterscheiden. Je nach Annahme lag die Fehlerrate bei fast 50 Prozent.
In einem zweiten Experiment mit realen Menschen liess er 79 Studenten eine Stunde lang Chopins «Complete Nocturnes» zuhören. Die Hälfte der Zeit verband er den Probanden die Augen, um zu überprüfen, ob sie mehr gähnten, wenn sie einander zusehen konnte. Mit eindeutigem Resultat: Die Gruppe der Versuchspersonen gähnte mehr als fünfmal so oft, wenn sie einander sehen konnten. Trotzdem gibt Kapitany seine Null-Hypothese, nämlich dass Gähnen nicht ansteckend ist, noch nicht auf. Einerseits könnte, so glaubt der Forscher, die Häufigkeit des Gähnens mit zunehmender Zeit zugenommen haben. (Den Probanden waren zuerst für eine halbe Stunde die Augen verbunden worden.) Andererseits habe eine tiefer gehende Analyse gezeigt, dass das Gähnen der einzelnen Probanden untereinander nicht korrelierte. Kapitany zählte nur das totale Gähnen der Gruppe.
So süüss, da muss man mitgähnen! Video: Youtube
Der Forscher möchte nun weitere Analysen folgen lassen, selbst wenn seine Demontage des Gähn-Paradigmas nicht vollständig gelang. Adrian Guggisberg attestiert der Studie, dass sie interessante methodische Überlegungen anrege. «Aber sie reicht nicht aus, um die gesamte Literatur zur Ansteckbarkeit des Gähnens infrage zu stellen.» Auch wenn es laut Adrian Guggisberg am wahrscheinlichsten ist, dass das ansteckende Gähnen eine soziale Funktion hat, sind dennoch viele Fragen offen. «Es gibt viele Beobachtungen, aber keine erhärteten Experimente», sagt Guggisberg, der heute jedoch nicht mehr in dem Bereich tätig ist. So ist immer noch unklar, was das kollektive Gähnen überhaupt bringt. Trägt es zum Zusammenhalt einer Gruppe bei, und wenn ja, wie? Hat es eine kommunikative Funktion, und wenn ja, was genau signalisiert es? Was genau löst das Gähnen aus und welchen Effekt hat es? «Da sind noch viele Elemente nicht schlüssig bewiesen», sagt Guggisberg. Als wäre es nicht schon bitter genug, dass das Gähnen der Köhlerschildkröte Alexandra nicht funktionierte.
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