Wo Giftschlangen zum Gottesdienst gehören
In einigen Gemeinden der USA hält sich ein gefährlicher Brauch. Zu Besuch bei Menschen, die ihr Leben in Gottes Hand legen – jeden Sonntag.

Pastor Jimmy Morrow fängt seine Schlangen im Wald. Copperheads, die so heissen, weil sie einen dreieckigen, kupferfarbenen Kopf haben; Cottonmouths, deren Mund, wenn sie ihn vor dem Biss aufreissen, innen weiss leuchtet wie ein Bällchen Baumwolle; und Klapperschlangen, dick und schwarz gestreift und mit einer Rassel, die scharf und trocken schnarrt, wenn die Tiere wütend sind. Morrow, ein grosser, hagerer Mann, fängt auch die Mäuse, die er seinen Schlangen verfüttert. «Als ich jünger war, hatte ich dreissig oder vierzig Schlangen», erzählt er.
Aber jetzt ist Morrow Mitte sechzig, und so viele Schlangen zu versorgen wäre ihm zu mühsam. Stattdessen malt er lieber – naive Ölbilder, die biblische Szenen zeigen, und mit denen er seine Kirche schmückt. «Im Moment habe ich nur noch fünf Schlangen», sagt Morrow. Eine hat er mitgebracht, eine sandbraune Copperhead, die unbeweglich in einer Holzkiste liegt, deren Deckel mit einem kleinen Vorhängeschloss abgesperrt ist. Morrow hat den Kasten selbst gebaut, in eine Seite hat er das Wort «Jesus» geschnitzt.
Die Menschen, die die Schlangen anfassen, wollen ihr Leben in die Hand des Herrn geben.
Morrow ist einer der wenigen Pastoren in Amerika, die noch das sogenannte Snake Handling oder Serpent Handling praktizieren, eine geheimnisvolle, mitunter recht gefährliche Tradition, bei der die Gläubigen während des Gottesdiensts giftige Schlangen in den Händen halten. Entstanden ist das Snake Handling vor mehr als hundert Jahren in den Appalachen, einer waldigen, düsteren Bergregion, die sich von Pennsylvania über Virginia und West Virginia, Kentucky, Tennessee und die Carolinas bis nach Alabama zieht. Die Appalachen waren immer schon arm. Aber sie waren auch immer ein Ort voller Mysterien, wo in engen Tälern zwischen nebelverhangenen Bergen rätselhafte Dinge passieren.

Die meisten grossen christlichen Konfessionen in den Vereinigten Staaten halten das Snake Handling für sektiererischen Hokuspokus. Aber in einigen freien, streng gläubigen Pfingstgemeinden wird es bis heute betrieben. Morrows Kirche, die Church of God in Jesus Christ's Name, steht in Edwina, einem Dorf in Tennessee, das aus kaum mehr als einer Strassenkreuzung und ein paar schiefen Häusern besteht.
Das Snake Handling ist kein heidnisches Ritual, es hat nichts mit der Anbetung oder Beschwörung der Tiere zu tun. Für die Menschen, die die Schlangen anfassen, ist es ein Glaubensbeweis – ein Zeichen, dass sie zu den Seligen gehören, zu denen, die bereit sind, ihr Leben in die Hand des Herrn zu geben.
Eigenwillig und stur
Denn so steht es in der Bibel, und die Bibel nehmen Morrow und die Menschen, die in seine Kirche kommen, wörtlich: «Die Zeichen aber, die folgen werden denen, die da glauben, sind diese», heisst es im Markus-Evangelium, Kapitel 16, Vers 17 und 18. «In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, in neuen Zungen reden, Schlangen mit den Händen hochheben, und wenn sie etwas Tödliches trinken, wirds ihnen nicht schaden.» Und bei Lukas steht in Kapitel 10, Vers 19: «Seht, ich habe euch Macht gegeben zu treten auf Schlangen und Skorpione, und Macht über alle Gewalt des Feinds; und nichts wird euch schaden.»
Die Menschen in den Appalachen sind eigenwillig und stur, sie mögen es nicht, wenn Sheriffs oder Richter ihnen sagen, wie sie Gott in ihren Kirchen zu feiern haben. Alle Versuche, das Snake Handling gesetzlich zu verbieten, sind deswegen gescheitert.

Inzwischen ist es in den meisten Bundesstaaten, in denen es noch stattfindet, entweder als legaler religiöser Ritus anerkannt, oder es wird von den Behörden zumindest geduldet. Die Pastoren bekommen allenfalls Probleme, wenn sie gegen Tierschutzgesetze verstossen. Oder wenn Gläubige gebissen werden und sterben, dann ermittelt die Polizei. Schätzungen zufolge gibt es noch 50 bis 120 Gemeinden in Amerika, in denen das Snake Handling praktiziert wird; zusammen haben sie vielleicht tausend oder zweitausend Mitglieder.
Gott zu preisen ist in der Church of God in Jesus Christ's Name stets mit einer gewissen Gefahr für Leib und Leben verbunden. Bei Pastor Morrow sind es ungefähr fünfzehn Menschen, die regelmässig in seinen Gottesdienst kommen. Morrow hatte früher in der Nähe von Edwina eine Farm, er hat das Land mit Pferden gepflügt und Mais und Tabak angebaut. Davon haben er und seine Frau Pam gelebt.
Doch Morrows wahre Berufung war es, Gottes Wort zu verbreiten. Seit er klein war, habe er gewusst, dass er eines Tages eine Kirche bauen werde, sagt er. Und er wusste, dass die Schlangen dazugehören werden. «In meiner Familie haben wir das immer schon gemacht.» Als er 18 war, ging Morrow zum ersten Mal in die Berge, um Schlangen zu fangen.
«Es tut sehr weh»
Morrow öffnet den Holzkasten und nimmt die Copperhead vorsichtig heraus. «Oh Jesus», murmelt er, «oh Jesus, ich glaube an Jesus, halleluja, im Namen von Jesus Christus.» Er hält die Schlange mit beiden Händen, das Tier bewegt sich träge und tastet mit der Zunge in der Luft herum. So friedlich sind die Schlangen nicht immer. Morrow ist in den vergangenen Jahren dreimal gebissen worden, in die Hände und in die Brust. «Sie sind schnell wie ein Blitz, ich habe die Bisse gar nicht gesehen», sagt er. «Und es tut sehr weh.» Trotzdem sagt Morrow, dass er nie Angst habe, die Schlangen anzufassen. «Man darf keine Angst empfinden. Nur Liebe.»
Wie viele von den Pastoren aus der alten Generation ist auch Morrow wegen der Bisse nicht zum Arzt gegangen. So ist der Glaube: Wenn die Schlange nicht beisst, dann ist das Gottes Wille. Wenn sie beisst, dann ist das auch Gottes Wille. Dann kann der Verletzte beten und den Herrn um Heilung bitten. Und wenn der Herr es will, dann heilt er, so wie er Jimmy Morrow dreimal geheilt hat.
«Wenn es Zeit ist zu gehen, dann ist es Zeit zu gehen.»
Doch manchmal lässt Gott den Verletzten sterben. Das kommt in den Snake-Handling-Gemeinden immer wieder vor, manchmal sterben Pastoren, manchmal Gottesdienstbesucher. Insgesamt sind 90 bis 120 Todesfälle durch das Snake Handling dokumentiert. Doch die Gläubigen nehmen das mit einer fast tröstlichen Gelassenheit hin. Ein tödlicher Schlangenbiss bedeutet für sie, dass die Zeit, die Gott diesem Menschen gegeben hat, vorbei war. «Wir verlassen diese Erde nicht, bevor Gott nicht bereit für uns ist», sagt Morrow.
Jeden Sonntag um eins feiert Jimmy Morrow Gottesdienst. Vorher betet er an einem grossen Felsblock, der hoch oben an einer steilen Bergflanke hinter seiner Kirche liegt. Morrow hat dort das Gebüsch weggehackt, er hat die Bäume gefällt und zersägt und an dem Hang einen Friedhof angelegt. Zwei Menschen sind hier begraben, zwei langjährige Mitglieder seiner Gemeinde. Irgendwann wird auch er hier liegen. Der Stein, an dem er betet, ist sein Grabstein. Er hat sein Geburtsjahr, seinen Namen und den seiner Frau darin eingemeisselt: 1955, Jimmy Morrow, Pamela.
Der Gottesdienst dauert ungefähr eineinhalb Stunden. Nur eine Handvoll Gläubige sind an diesem Sonntagmittag gekommen, darunter Morrows Bruder und eine Familie mit zwei kleinen Kindern, etwa sechs und sieben Jahre alt. Es sind einfache Menschen, und sie feiern einen einfachen Gottesdienst: Sie beten, sie danken Gott für alles, was gut ist in ihren Leben, und sie bitten ihn um Beistand für Menschen, denen es nicht gut geht. Sie stehen reihum auf und singen einfache Lieder über die Liebe Gottes und Jesus, ihren Retter.
Wenn der Heilige Geist spricht
Es ist auch kein gewöhnlicher Gottesdienst, zu dem sie gekommen sind. Sie sind nicht hier, um eine erbauliche Predigt von Pastor Morrow zu hören oder von ihm das Abendmahl zu empfangen. Sie warten auf den Moment, in dem – so beschreiben es die Pastoren – der Heilige Geist zu ihnen spricht und ihnen sagt, dass sie nun die Schlange in die Hände nehmen sollen.
Morrow öffnet die Kiste, er nimmt die Copperhead heraus. Er balanciert das Tier auf seinen Händen und wiegt es hin und her. Die Schlange hängt zwischen seinen Fingern, während Morrow zur Gemeinde spricht: «Das ist das Wort Gottes: Sie sollen Schlangen aufheben.» Er reicht die Schlange seiner Frau, diese gibt sie an Morrows Bruder weiter.
«Als ich gebetet habe, hat jemand mich berührt», singt der Pastor mit gepresster Stimme. «Es muss die Hand des Herrn gewesen sein.» Nach einigen Minuten legt Morrow die Schlange wieder in ihre Kiste.
Drei Menschen haben an diesem Sonntag ihr Leben riskiert, um Gott zu zeigen, wie tief und fest ihr Glaube ist. Was sollen sie auch herumkritteln am Willen Gottes? «Wenn es Zeit ist zu gehen», sagt Morrow, «dann ist es Zeit zu gehen.»
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