Krimi der WocheWirklich gefährlich sind hier die Männer
Klapperschlangen sind noch das Harmloseste auf den Ölfeldern in Westtexas: Das dramatische Romandebüt von Elizabeth Wetmore ist gleichzeitig ein Liebesbrief an ihre brutale Heimatstadt.

Der erste Satz
Sonntagmorgen draussen auf dem Ölfeld, kurz vor der Dämmerung.
Das Buch
Das Setting könnte kaum öder sein: Um Odessa in Westtexas liegt nur flaches Land, so weit das Auge reicht. Es gibt Bohrtürme und Ölpumpen. Stacheldrahtzäune und Rinder. Es ist das Jahr 1976, der Ölboom ist «ein wahrer Segen für die kleinen Gemeinden» – und «zieht die allerbeste Sorte von Psychopathen an».
Elizabeth Wetmore ist mit 18 Jahren aus ihrer Heimatstadt Odessa abgehauen. Jetzt, mit 53 Jahren, blickt sie in ihrem dramatischen Romandebüt «Wir sind dieser Staub» zurück auf die Zeit ihrer Kindheit in dieser Stadt. Auf eine Machowelt, die Frauen zum Resignieren oder zum Fliehen zwingt. Oder sie nicht überleben lässt.
Fast alle Mütter hier sind jung, sehr jung.
«Männer kommen ständig um – bei Schlägereien, Pipeline-Explosionen oder wegen eines Gaslecks. Sie fallen von Kühltürmen, wollen schnell noch die Bahngeleise überqueren oder betrinken sich und versuchen dann, ihre Waffen zu putzen. Frauen kommen um, wenn sie Krebs kriegen oder den Falschen heiraten oder zu fremden Männern ins Auto steigen.» Gloria Ramirez ist zu einem fremden Mann ins Auto gestiegen. Getötet wurde die 14-Jährige nicht, aber nur, weil sie nach der brutalen Vergewaltigung in einer langen Nacht noch rechtzeitig auf eine nahe Farm fliehen konnte.
Mary Rose, eine junge Mutter – fast alle Mütter hier sind jung, sehr jung –, sorgt dafür, dass der Täter verhaftet wird. Das verändert ihr Leben, denn die meisten hier, auch ihr Ehemann, aber nicht nur Männer, ergreifen Partei gegen das Opfer und für den Täter. Ein mexikanisches Flittchen versaue dem hart arbeitenden Sohn eines Predigers das Leben, ist die vorherrschende Meinung. Bei Mary Rose steht das Telefon nicht mehr still: Beschimpfungen, Drohungen ohne Ende.
Sexismus und Rassismus sind die zentralen Themen dieses grossartigen Romans, der dramatisch und in bildhafter Sprache vom Leben und Sterben in dieser ebenso harten wie trostlosen Welt erzählt. Abwechselnd aus der Perspektive von sieben Frauen – der vergewaltigten Gloria, die sich nun Glory nennt, der mutigen Mary Rose, der 10-jährigen Debra Ann und deren Mutter Ginny, die aus der Stadt geflohen ist, der älteren ehemaligen Lehrerin Corrine, die sich nur noch zu Tode saufen will, der angepassten Suzanne und der 17-jährigen Mutter und Kellnerin Karla – entwickelt sich weit abseits üblicher Krimimuster ein schonungsloses Porträt der Stadt, in der die Autorin aufgewachsen ist.
Es habe so lange gedauert, bis sie diesen Roman habe schreiben können, weil sie sich zuerst wieder in diese Stadt habe verlieben müssen, sagte Wetmore in einem Interview, denn «dieses Buch musste ein Liebesbrief an meine Heimatstadt sein». Es ist auf jeden Fall eine Liebeserklärung an mutige Frauen – nicht nur in dieser Stadt – geworden.
Die Wertung
Originalität: ★★★★★
Spannung: ★★★☆☆
Realismus: ★★★★☆
Humor: ★★★☆☆
Gesamteindruck: ★★★★★
Die Autorin
Elizabeth Wetmore, geboren 1967 oder 1968 in Odessa im US-Bundesstaat Texas, verliess ihre Heimatstadt, als sie 18 Jahre alt war. Sie arbeitete als Kellnerin, Englischlehrerin, Taxifahrerin, redigierte Psychologie-Dissertationen und bemalte Silos und Kühltürme in einer petrochemischen Fabrik. Eine Zeit lang lebte sie in einer kleinen Hütte in den Wäldern ausserhalb von Flagstaff, Arizona, während sie als Ansagerin für klassische Musik tätig war.

Ihre ersten Short Storys schrieb sie in ihren späten Zwanzigern. Sie veröffentliche dann Kurzgeschichten in verschiedenen Literaturzeitschriften, darunter «Epoch», «Colorado Review», «Baltimore Review» und «Iowa Review». Sie erhielt verschiedene Stipendien, darunter vom National Endwoment for the Arts, dem Ilinois Arts Council und der Barbara Deming Foundation. An der University of Iowa in Iowa City absolvierte sie den renommierten, zwei Jahre dauernden Writer’s Workshop, an dem prominente Autorinnen und Autoren unterrichten. Als wichtige Einflüsse nennt Elizabeth Wetmore die legendären Autoren Larry McMurtry («The Last Picture Show», «Lonesome Dove») und Cormac McCarthy («All the Pretty Horses», «No Country for Old Men»).
Der jetzt unter dem Titel «Wir sind dieser Staub» auf Deutsch erschienene Roman «Valentine» (2020) ist Elizabeth Wetmores Buchdebüt. Sie lebt mit ihrem Mann, der Lyrik schreibt und Englisch unterrichtet, und ihrem 17-jährigen Sohn in Chicago.

Elizabeth Wetmore: Wir sind dieser Staub (Original: Valentine. Harper, New York 2020). Aus dem Englischen von Eva Bonné. Eichborn, Köln 2021, 319 S., ca. 33 Fr.
Fehler gefunden?Jetzt melden.