Wochenduell: Revolutionäre TechnologieWird die neue Abseitsregel den Fussball fairer und spannender machen?
Maschine statt Mensch: Die Fifa will Fehler und endlose Diskussionen ums Offside ein für alle Mal beenden sowie die Stürmer bevorteilen. Nicht alle finden das gut.

Ja: Durch die Bevorteilung des Angreifers sowie die Kameratechnologie wird es weniger Unterbrüche und mehr Tore geben. Wer kann da dagegen sein?
Arsène Wenger hat in seiner Karriere als Trainer Dinge geschafft, die in der Fussballwelt eigentlich als unmöglich galten: Er stand über zwei Jahrzehnte beim gleichen Club an der Seitenlinie, er führte das gepflegte Spiel in der brachialen englischen Tempo-Liga ein, und er verlor mit Arsenal in der Saison 2003/04 keine einzige Partie. Die grösste Errungenschaft könnte dem 71-Jährigen nun viele Jahre später gelingen, nicht mehr als Trainer, sondern als Funktionär. Der Fifa-Entwicklungsdirektor möchte die Abseitsregel revolutionieren: Anstatt Linienrichter melden künftig Kameras und Computer fehlerfrei, ob es Offside ist oder nicht. Dazu soll in Zukunft erst ein Vergehen geahndet werden, wenn der angreifende Spieler sich komplett vor der Abseitslinie befindet.
Die Neuerungen, die Anfang nächsten Jahres getestet und bei der WM in Katar Ende 2022 erstmals vollumfänglich eingesetzt werden sollen, sind längst überfällig und werden für Spannung und Fairness sorgen. Die Ermittlung der Abseitsposition per Kameras und Computerauswertungen sind zu vergleichen mit dem Hawk-Eye im Tennis, das heute nicht mehr wegzudenken ist und unzählige Fehlentscheide verhindert. Beim US Open im September wurde pandemiebedingt sogar komplett auf Linienrichter verzichtet. Die Spieler und die Zuschauer monierten zwar, dass so dem Sport Emotionen verloren gingen. Doch dass das neue System fairer, da fehlerlos sei, das bestritt niemand.
Gleiches wird sich im Fussball zeigen: Die minutenlangen, unsäglichen Diskussionen mit den Unparteiischen werden der Vergangenheit angehören. Und Fehlentscheide, die es weiterhin auch mit dem (menschlichen) VAR (Video Assistant Referee) gibt – wie am Wochenende in der Super League wieder einmal zu bestaunen war –, werden schlicht nicht mehr passieren.
Auch dass die Regeln neu deutlich für den Stürmer ausgelegt werden und erst eine Abseitsposition vorliegt, wenn sich der Angreifer beim Abspiel deutlich vor der Linie aufhält, wird dem Sport guttun. Laut dem Communiqué der Fifa gab es in der vergangenen Premier-League-Saison pro Partie vier knappe Offside-Entscheide, laut Präsident Gianni Infantino wären zwei davon kein Abseits gewesen. Die neue Regel schafft also nicht nur mehr Klarheit, sondern auch weniger Unterbrüche und mehr Tore. Welcher Fussballfan kann da dagegen sein?
Nein: Das Offside ist nicht das Problemkind. Stattdessen sollte die Fifa sich darauf konzentrieren, wo wirklich Handlungsbedarf bestünde.
Die gängige Abseitsregel ist so alt wie der Fussball selbst. Eine Neuauslegung dieser Regel käme einer Revolution des Fussballs gleich. Doch es wäre eine Revolution, die der Fussball zumindest in dieser Form nicht braucht.
Kurz zusammengefasst, wäre die neue Abseitsregel die Umkehr der alten. Bislang stand ein Spieler im Abseits, wenn sich bei der Ballabgabe auch nur die Spitze eines Körperteils, mit dem er ein Tor erzielen darf, näher am gegnerischen Tor als der letzte Verteidiger befindet. Neu müsste sich nur noch ein Körperteil, mit dem man ein Tor erzielen darf, noch auf der Linie des letzten Verteidigers befinden, der Rest des Körpers dürfte sich nach bewährtem Verständnis im Abseits befinden.
Der Angriffsfussball müsse gefördert werden, begründet Fifa-Präsident Gianni Infantino die Idee. Was Infantino dabei vergisst: Der Vorteil der Stürmer wäre gleichzeitig ein gewaltiger Nachteil für die Verteidiger. Schlussendlich würden sich dadurch die Vor- und Nachteile der neuen Regel aufheben und in ein paar Jahren würde es wieder Diskussionen um eine erneute Veränderung geben.
Bei Abseitsentscheidungen stritt man sich - auch trotz der Einführung der kalibrierten Linie - stets um Millimeter. Und dies erst recht seit der Einführung des VAR, bei dem die auf dem Platz gefällte Entscheidung jeweils präzis unter die Lupe genommen werden kann. Die neue Regel würde daran nichts ändern: Anstatt dass man sich anschaut, ob nun eine Fussspitze im Abseits steht oder nicht, würde man neu debattieren, nachmessen und tüfteln, ob sich der letzte Rest einer Ferse noch auf Höhe des Abwehrspielers befindet.
Das bringt niemandem was. Nicht mal dann, wenn die neue automatische Abseitserkennung der Fifa zum Einsatz kommen wird. Einerseits ist diese noch nicht ausgereift genug, um die genauen Ausmasse eines Spielers zu erkennen, andererseits obliegt die finale Bewertung einer Spielsituation immer noch dem Schiedsrichter, unabhängig davon, was die Maschine rät. Dies, weil Abseits nicht immer eindeutig ausgelegt werden kann, beispielsweise bei passivem Abseits oder bei der Beurteilung, ob der Ball von einem Gegenspieler kam oder nicht.
Natürlich, die Prognosen legen nahe, dass neu mehr reguläre Tore fallen würden, was für den neutralen Fussballfan sicherlich eine schöne Sache wäre. Doch die Fifa dreht damit einmal mehr an Schrauben, die eigentlich noch so sitzen, wie sie sollten. Die Abseitsregel ist nicht das Problemkind. Stattdessen sollte man sich darauf fokussieren, wo wirklich Handlungsbedarf besteht. Auf und neben dem Platz.
Die Handspielregel beispielsweise kann noch immer nicht zweifelsfrei objektiv ausgelegt werden, trotz des Versuchs verschiedener Regelreformen. Dies sollte hinterfragt werden, ebenso wie die Möglichkeit einer Vereinsübernahme eines saudi-arabischen Konsortiums bei Newcastle United, dem schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Die Abseitsregel hingegen ist doch gut, wie sie ist.
* Das Wochenduell: Die «Basler Zeitung» stellt sich ab sofort in regelmässigem Abstand Themen, die die Sportwelt bewegen – und beleuchtet dabei in einem Pro und Kontra beide Seiten. Zuletzt erschienen: Ist Tyson Fury der beste Boxer in der Geschichte?Verpasst die Schweiz nach Xhakas Ausfall nun die WM?Soll der FCB den Vertrag mit Fabian Frei verlängern?Hat der Laver-Cup ohne den Spieler Roger Federer eine Zukunft?
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