«Wir wollen alle nicht in einer Wehrstadt leben»
Gefängnisse, Bunker, Mauern: Theo Deutinger hat in einem Handbuch Bauten erfasst, die sich gegen Menschen richten: sie ein- oder aussperren – oder schützen.

Theo Deutinger, warum legt ein Architekt ein «Handbook of Tyranny» vor, das unter anderem aufzeigt, wie viele Quadratmeter die Gefängniszellen in den verschiedenen Ländern messen?
Die Fragestellung war, Architekturen zu finden, die nicht für den Menschen gedacht sind, wie das ja normalerweise bei Architekten der Fall ist, sondern gegen den Menschen. Daraus ergab sich dann ein Aspekt nach dem andern.
Eine Enzyklopädie der menschenfeindlichen Architektur?
Ja, wir haben versucht, herauszufinden, was es alles auf diesem Markt gibt.
Das Buch lebt sehr von den grafischen Darstellungen und Zeichnungen.
Für mich ist das eine visuelle Art der Architekturtheorie. Wir liefern schon auch Text, aber im Zentrum stehen die visuellen Darstellungen, die für sich sprechen sollen.
In einem der zwölf Kapitel Ihres Buchs haben Sie 54 unterschiedliche Zäune erfasst. Was ist für Sie die wichtigste Erkenntnis dieser Übersicht?
Man redet ja immer von Mauern, aber Mauern sind irrsinnig teuer, weil sie tiefe Fundamente brauchen und bis zu 8 Meter hoch sein müssen, sodass man möglichst nicht darüber klettern kann. Zudem sollen sie auch kugelsicher sein. Das bedeutet einen hohen Material- und Kapitaleinsatz. Wenn Mauern nicht nur Gefängnisse oder Stadtteile abgrenzen sollen, sondern Staatsgrenzen, handelt es sich um enorm teure Bauten, die man sich nur gegen einen Gegner leistet, mit dem man im Krieg ist. Wenn es um die Abwehr von illegalen Immigranten geht, werden dagegen meist Zäune gebaut. Zwischen Palästina und Israel gibt es Mauern, zwischen Mexiko und den USA bis jetzt jedenfalls meistens Zäune.
Wo steht die höchste Mauer?
Die Israelis haben 8 Meter hohe Mauern aus vorfabriziertem Beton. Entlang der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen gibt es Metallspundwände, die 18 Meter in die Tiefe reichen, um illegale Immigranten davon abzuhalten, durch Tunnel einzudringen. Es gibt Berichte, dass Israel zurzeit eine Mauer zum Gazastreifen baut, die an gewissen Stellen 100 Meter tief ist. Das sind absurde Konstrukte, die fast wie Eisberge aussehen.
Damit sind wir bei den Bunkern. Was müssen die ab- oder aushalten?
Die Amerikaner haben eine bunkerbrechende Bombe gebaut, die anscheinend 60 Meter Stahlbeton durchbohren kann. In Afghanistan wurde sie von Trump schon einmal eingesetzt. Dagegen ist dann kein Kraut mehr gewachsen. Das führt zu einer vollkommen absurden Architektur, die sich letztlich weit ins Innere eines Berges verziehen muss, sodass sie von keiner Bombe mehr erreichbar ist.
Interessieren Sie sich eigentlich für historische Entwicklungen und kulturelle Besonderheiten?
Nein, es geht uns um eine Typologie oder Kartierung der Gegenwart. Wir gehen nicht auf die Chinesische Mauer und jene zwischen der BRD und der DDR ein. Die Barrieren, Zäune und Mauern, die das Leben heute bestimmen, sind mit einigen Ausnahmen im letzten Vierteljahrhundert entstanden.
Leben wir in einer Zeit des Zaun- und Mauerbooms ganz ohne kulturelle Besonderheiten?
Vielleicht findet man in der gemauerten Steinwand zwischen dem Norden und dem Süden von Zypern noch kulturelle Eigenheiten. Auch zwischen dem Oman und den Vereinigten Arabischen Emiraten gibt es Wände mit Bogenelementen, die man auch in der dort praktizierten Architektur findet. Aber sonst handelt es sich um einen internationalen Stil, wenn man so will, der mit Beton, Metall, Stacheldraht sowie mit Bewegungsdetektoren und Überwachungskameras möglichst abschreckende Mauer- oder eben Zaunmonster gebiert.
Könnte Ihr Buch nicht auch für Diktatoren von einigem Gebrauchswert sein?
Wir haben das auch diskutiert. Wer sich einen Grenzzaun oder eine Grenzmauer bauen will, der findet leicht einen Baumeister. Ausserdem handelt es sich ja auch nicht um wirklich hochstehende Architektur. Uns geht es um eine Verbreitung unserer Ergebnisse, denen ja auch unglaublich absurde Architekturen zugrunde liegen: Die Mauern und Zäune stehen meist im nirgendwo, in menschenleeren Zonen, die wegen dieser Mauern noch menschenleerer werden. Ihre Aufgabe haben sie dann am besten erfüllt, wenn sie so abschreckend sind, dass gar niemand mehr auf die Idee kommt, sie überwinden zu wollen.
Wie lässt sich eigentlich der Missbrauch eines Autos oder Lastwagens durch Terroristen in einer Stadt verhindern?
Auch hier haben wir eine ganze Reihe von Vorkehrungen angetroffen. Das reicht von defensiver Möblierung bis zu veränderter Strassenführung. So werden die Verkehrsplaner angehalten, die Strassen nicht rechtwinklig auf einen Platz oder Park auftreffen zu lassen, sondern eine Kurve zu konstruieren. Oder sie machen eine Strasse mithilfe von abwechselnd versetzten Betonschutzwänden, wie sie auf den Autobahnen verwendet werden, zu einem Slalomparcours. Kräftige Bäume werden dort gepflanzt, wo wirklich auch Gefahrenzonen sind. Blumentröge werden verbunden mit einem starken Fundament, sodass sie zu eigentlichen Pollern werden.
Eine Aufrüstung der Städte?
Ja, durchaus. So erlebt zum Beispiel die Sitzbank eine eigentliche Renaissance. Während sie aus der neoliberalen Stadt beinahe verschwunden ist, da sie den Verkehr behindert oder als Rastplatz zum Essen den Restaurants Konkurrenz macht, ist sie heute mit einem stabilen Fundament ein probates Mittel gegen terroristische Lastwagenattacken. Das fällt niemandem auf, macht einen friedlichen Eindruck, aber verdeckt doch, in welch gefährlichen Zeiten wir leben.
Wie stellen Sie sich dazu?
Mir gefällt das Kapitel über die defensive Stadt gerade deswegen, weil es deutlich macht, wie schwer es ist, sich zu positionieren. Bei vielen anderen Kapiteln kann man einfach die schlechte Entwicklung unserer Welt beklagen. Hier geht es aber um unsere Städte und die Frage, wie lebenswert sie sind und wie frei wir als Bewohner und Besucher uns bewegen können.

Nun kann man das Versteckspiel mit den Abwehrmassnahmen beschönigend, gar heuchlerisch finden.
Das stimmt. Aber es ist auch so, dass wir alle nicht in einer Wehrstadt leben wollen, die bis zu den Zähnen bewaffnet sich gegen mögliche Terrorattacken wehrt. Ich denke da oft an die Renaissance-Städte, die eigentliche Wehrstädte waren, aber im Unterschied zu den mittelalterlichen Städten auch wunderschöne Bauten dafür entwickelten.
Ein besonders schreckliches Kapitel handelt von der Todesstrafe. Sie zeigen da sechs verschiedene Arten der Exekution. Was lehrt uns das?
Es geht um die finale Begrenzung des Raums, wo das Jetzt aufhört und das Jenseits beginnt. Dabei unterliegt das ganze Prozedere einem strengen Protokoll, das von Land zu Land verschieden ist, sei das in den USA, im Iran, in China, in Saudiarabien oder in Kuwait. Da geht es um eine Hinrichtung, bei der nicht ein Polizist, Soldat oder Wärter Verantwortung übernimmt, sondern das System, die Gesellschaft als Ganzes oder eben gar niemand. Sehr deutlich wird das bei der Steinigung im Iran. Da wird der Verurteilte in einen Graben gestellt, sodass nur noch der unter einem Sack versteckte Kopf hervorschaut. Die Steine dürfen nicht zu gross und nicht zu klein sein, denn sie dürfen den Todgeweihten nicht mit einem Schlag töten, sondern sollen erst in der Masse tödlich werden, sodass nicht bestimmt werden kann, wer den finalen Stein geworfen hat.
Sie analysieren im Umkreis der Todesstrafe auch die Abläufe in einem Schlachthof.
Ja, das passt irgendwie zusammen, weil es auch im Schlachthof darum geht, den Tötungsvorgang und die nachfolgende Zerlegung des Tieres möglichst zu anonymisieren. Es wird wohl nicht mehr lange gehen, bis wir vollautomatische Schlachthäuser haben, in denen sich kein Mensch mehr schuldig macht. Wir übergeben der Technik die Schuld. Wir haben nichts damit zu tun.
Ist es wirklich so, dass wir mithilfe von Technik und Elektronik in eine Zukunft hingehen, in der bei Ausgrenzungsprozessen niemand mehr die Verantwortung übernehmen muss?
Ich denke schon. Es geht uns auch so mit dem Flüchtlingsdeal mit Erdogan. Er bekommt 3 Milliarden Euro von der EU, damit er die Grenze dichthält. Wir haben damit nichts zu tun, und der Böse ist Erdogan, den man sowieso nicht mag.
Die Ausstellung «Unterm Radar» im Architekturmuseum Basel ist bis 15. März 2020 zu sehen.
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