«Wir sollten den Leistungsdruck von der Vorschule fernhalten»
In der Schweiz wird hitzig über staatliche Frühförderung debattiert. Warum sie in Schweden längst etabliert ist, erklärt Ursula Armbruster.
In Schweden gehen 92 Prozent der Vierjährigen freiwillig in die Vorschule, in der Schweiz soll sie obligatorisch werden. Warum braucht Schweden kein Obligatorium?Wenn das Angebot existiert und gut ist, so nutzen es die Eltern freiwillig. Und die wenigen Eltern, die ihre Kinder nicht in die Vorschule schicken, wären auch mit einem Obligatorium nicht dazu zu bewegen. Sie würden eine Dispens erwirken. Anderseits ist es vielleicht auch nur eine Frage der Zeit, bis die Frühförderung in Westeuropa obligatorisch wird – so wie heute die Schule. Schliesslich stellt ja niemand mehr das Schulobligatorium in Frage.
Hören Sie in Schweden auch Kritik von Eltern, die überzeugt sind, ihre Kinder selbst besser fördern zu können?Es gibt diese Stimmen. Um die Eltern von der Sache zu überzeugen, ist es wichtig ihnen zu vermitteln, dass das Angebot nicht gegen sie gerichtet ist, dass es sie nicht konkurrenziert, sondern eine Ergänzung bietet. Denn selbst Kinder, die zu Hause nach allen Regeln der Kunst gefördert werden, verpassen etwas: Die frühe Sozialisierung in einer Gruppe.
Sie haben Lehrpläne bereits auf Vorschulstufe. Müssen Drei- oder Vierjährige Lernziele erreichen?Nein, auf keinen Fall. Die Lehrpläne enthalten Grundsätze. Etwa dass die Vorschule unsere Wertehaltung vermitteln soll und dass sie die Sprachentwicklung fördert. Im Bereich der Naturwissenschaften und Mathematik soll die Vorschule die Kinder auf dieses spezifische Denken vorbereiten.
Das klingt jetzt aber schon sehr nach Schulbetrieb.Wir unterrichten nicht Mathematik, sondern wir bereiten das Kind so vor, dass es später in der Lage ist zu rechnen. Konkret üben wir beispielsweise das Zählen mit den Fingern. Oder zur Vorbereitung auf die Geometrie ist es dienlich, wenn die Kinder Formen unterscheiden können. Also wird die Vorschulbetreuerin die Kinder beispielsweise auffordern, alle runden Dinge in einem Raum zu nennen.
Dabei verlangen die Betreuerinnen von den Kindern eine gewisse Leistung. Werden diese schon gemessen?Nein, wir wollen nicht vorgeben, was ein dreijähriges Kind zu können hat. Wir bieten ihm ein inspirierendes Umfeld für seine Entwicklung. Es darf auf dieser Stufe noch keinen Lernzwang geben.
Warum nicht?Die Kinder sollen vor allem die Lust am Lernen entdecken und das geht nicht mit Leistungsdruck. Die grosse Herausforderung der nächsten Jahre wird sein, den Leistungsdruck von der Vorschule fern zu halten. Denn wir leben in einer Leistungsgesellschaft und neigen dazu, unsere Konzepte irgendwelchen Ländervergleichen – etwa Pisa – unterzuordnen. Wenigstens bei kleineren Kindern sollten wir da gelassener sein und den Fokus auf die individuelle Entwicklung legen statt auf Lernziele.
Schweden investiert 5 Milliarden Euro jährlich in den Vorschulbereich. Kann man den Erfolg dieser Investition messen?Natürlich gibt es Forschungen. Die OECD kommt zum Schluss, dass nur schon ein Jahr Vorschule zu besseren Leistungen in der Schule führt. Aber mir ist keine Untersuchung bekannt, die nachweist, dass sich nur aufgrund der Vorschule die Chancengleichheit verbessert. Es spielen immer verschiedene Faktoren mit.
Nun gibt es aber eine Gegenbewegung: Die Christlichdemokraten wollen den Eltern mit öffentlichen Geldern ermöglichen, ihre Kinder selbst zu betreuen. Weshalb?Das ist eine rein politische Aktion. Die Christlichdemokraten finden, Familien mit Kleinkindern stünden unter Zeitdruck, wenn beide Eltern arbeiten. Deshalb wollen sie Bedingungen schaffen, damit die Eltern wieder mehr Zeit für ihre Kinder haben. Die Gemeinden sollen neu jenen Eltern, die selbst für die Betreuung ihrer ein- bis dreijährigen Kinder sorgen, monatlich 300 Euro auszahlen.
Wird die Vorschule grundsätzlich in Frage gestellt?Nein, sie ist ein klarer Bestandteil unseres Bildungswesens und in der Bevölkerung verankert. Die jetzige bürgerliche Regierung verlangt lediglich nach mehr Vielfalt bei den Betreuungs- und Fördermöglichkeiten. Aber sowohl den Konservativen als auch den Liberalen ist die Vorschule sehr wichtig, um Bildungsdifferenzen abzubauen und das Niveau der Schule zu heben.
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