Wieso die koreanischen Thriller alles schlagen
Südkorea ist das Originalitätskatapult des Kinos. Jetzt kommt «Parasite», eine beängstigende Home-Invasion-Komödie.

Schön, oder? Die Haushälterin führt den Besucher durch den frisch gesprengten Rasen hinein ins Luxusanwesen: Sichtbeton, Weinkühlschrank, Designersessel; sieht aus wie im Möbelkatalog. Jedenfalls von aussen, denn wirft man einen Blick in die Vorratsschränke, steht dort von allem zu viel, wie in einem Schutzbunker. Und was kleben da für Geschosse an der Wand? Der kleine Sohn steckt gerade in der Indianerphase, deshalb überall die Gummipfeile. So ist das bei der Oberschichtsfamilie Park in Südkorea: Krieg gespielt wird auf teurem Parkett, und wenn draussen ein Gewitter kommt, kann man von der Sofagarnitur aus zuschauen.
Von draussen kommt auch der Besucher Ki-woo, ein gemeinsamer Studentenfreund hat ihn als privaten Englischlehrer für die Tochter der Parks empfohlen. In Ki-woos eigener Familie sind alle arbeitslos, er lebt mit Vater, Mutter und Schwester im Souterrain hinten in einer Sackgasse, wo die Betrunkenen hinpinkeln und der städtische Insektenvernichter sein Gift durchs Fenster direkt in die Wohnung sprüht, weil er gar nicht merkt, dass da noch jemand wohnt.
Ki-woo kann den Job also brauchen, und als ihm Mutter Park die Zeichnungen des Indianersohns zeigt, kommt es noch besser. Ki-woo empfiehlt ihr spontan seine eigene Schwester als Kunst-Coach für den Sohn. Die hat zwar die Kunstschule nie geschafft, aber sie fälscht dafür sehr gut Zertifikate mit Photoshop.
Video: Das koreanische Thriller-Kino
Vier koreanische Produktionen, die man gesehen haben muss. Video: Tamedia/Marco Pietrocola
«Parasite» von Bong Joo-ho erzählt den Klassenkampf als bourdieuscher Thriller und tragische Gesellschaftskomödie. Ki-woos Familie heckt jetzt die unfreundliche Übernahme aus, und dank ihrer betrügerischen Gewitztheit gehören bald einmal sämtliche Mitglieder zum Hauspersonal in der Villa Park. Man trifft sich dort zum gemütlichen House-Sitting, sobald die Arbeitgeber ausgeflogen sind.
Hier aber fängt dieser geordnete Home-Invasion-Thriller erst richtig an, denn jetzt kann er erst die wichtigen Fragen stellen: Wem steht der Reichtum, und zu wem passt er nicht? Was stinkt stärker, Geld oder Armut? Jede Schicht hat ihren Stallgeruch, man erkennt sich daran und verrät sich dadurch. «Parasite» dekliniert nicht nur diese Idee virtuos durch, es ist auch eine Geschichte von den prickelnden Fantasien, die es in allen Ständen gibt, unten ist es der Aufstieg, oben das Slumming.
Es geht um jene, für die der Kapitalismus nur noch eine parasitäre Dienstboten-Existenz vorgesehen hat, Ki-woos Familie befindet sich da ganz am Ende der Nahrungskette, sie faltet für ein Sackgeld Pizzaschachteln, denn selbst der Lieferdienst hat noch Zulieferer. Es geht um Vertrauen und Selbstbetrug, denn die Superreichen lassen sich täuschen, in ihrer Welt sind persönliche Empfehlungen halt eine feste Währung – aber die Armen verleugnen sich selbst, weil es immer noch Ärmere gibt, die man nach unten treten kann.
Das koreanische Filmwunder existiert nun seit etwa 15 Jahren.
«Parasite» ist eine Moralgeschichte mit dreifachem Boden, die die sozialen Spaltungen Koreas in eine schwer unterhaltsame Parabel überführt – ähnlich wie das der Doppelgänger-Horrorfilm «Us» im Hinblick auf die verschiedenen Vorstellungen von afroamerikanischer Assimilation getan hat. Bong Joon-ho hat 2006 mit «The Host» einen überaus erfolgreichen Monsterfilm gedreht, damals schon aus Sicht einer zwar liebenswürdigen, aber etwas verwahrlosten Familie. Mit «Parasite» hat er dieses Jahr die Goldene Palme in Cannes gewonnen, was ihn sehr gefreut hat.
Für das koreanische Filmwunder, das nun seit ungefähr 15 Jahren andauert, ist es die schönste Krönung, gerade weil in «Parasite» in eleganter Form vieles zusammenkommt, was dieses Kino ausmacht: Originalität und stilistische Verschiebungen, fast schon grausame Mischungen aus Liebe und Irrwitz, Gefühl und Gewalt – da geht Action in Slapstick über und Anklage in derben Humor. Die Sozialkritik nimmt die drastischsten Formen an, der Blick ist soziologisch genau auf Demütigungen der Armut und die stoische Würde der Ausgebeuteten gerichtet – ein Blick, der den lebensprallen Alltag zeigt, aber dabei immer weitererzählt, ohne sich im grüblerisch Beobachtenden zu verlieren. Geschrieben sind diese Filme auch immer super: «Geld ist wie ein gutes Bügeleisen», heisst es einmal in «Parasite». «Es glättet jede Falte.»
Vier sehenswerte Korea-Thriller

«The Chaser»
Ein Zuhälter jagt einen Serienmörder, der es auf Prostituierte abgesehen hat. Unvergesslich.
«The Wailing»
Unbedarfte Polizisten jagen einen Geist: ein Wahnsinnsthriller mit unfassbaren Wendungen.
«A Hard Day»
Ein korrupter Cop fährt einen Obdachlosen zu Tode, worauf er sich mit skrupellosen Methoden behilft. So erfindungsreich wie brutal.
«Memories of Murder»
Bong Joon-hos früher Thriller basiert auf einem wahren Fall und ist eine Mordgeschichte ohne Ermittlungsresultat.
Zum Kino haben die Koreaner immer ein gespaltenes Verhältnis gehabt, auch deshalb brechen sie das Erzählsystem auf. Unter japanischer Herrschaft bis 1945 war die Filmproduktion streng zensiert. Zur Zeit der koreanischen Militärdiktatur wurde Drehs nur Produktionsfirmen mit eigenem Studio und fest angestellten Regisseuren erlaubt; sie verlegten sich vor allem darauf, Hits aus dem Westen zu imitieren. Zu einer Liberalisierung kam es im Verlauf der 80er-Jahre: Eine junge Generation von Regisseuren übernahm, in den 90ern eröffneten US-Studios Niederlassungen im Land und spritzten Investoren Millionen ins Filmgeschäft.
Abgeschafft wurde die Zensur erst 2001; selbst dann blieb die koreanische Filmproduktion noch geschützt mit einem Quotensystem, das den Kinos vorschrieb, an wie vielen Tagen sie einheimische Filme zeigen mussten. 2006 wurde diese Regel nicht zuletzt auf Druck von Hollywood gelockert, was paradoxerweise das nationale Filmwunder erst recht befeuerte: «The Host» haben 13 von insgesamt 48 Millionen Koreanern gesehen.
Der koreanische Thriller, für den auch Regisseure wie Park Chan-wook («Oldboy») oder Lee Chang-dong («Burning») stehen, schlägt derzeit alles, weil er das Kino von innen heraus sprengt: Er ist mit den Formeln gross geworden, aber immer hat er sie modifiziert. Aus Japan kam der Einfluss des Yakuza-Films, aus Hongkong die Kampfkunst, aus den USA der Western, all das nahm er auf, stiess es von sich und verpackte es neu fürs eigene Publikum. Wer in Korea eine Feuerwaffe besitzt, muss sie zwecks Überwachung der nächsten Polizeistation abgeben – im koreanischen Thriller wird deshalb viel mit Messern gekämpft, was spannungstechnisch ja auch deutlich mehr hermacht.
Es gibt deshalb auch eine quälerische Brutalität in diesen Filmen. Eine Lust auf Vernichtung, wo sich die Figuren ineinander verhaken und sich gegenseitig Schmerzen zufügen, bis zur Raserei. Feinde sind immer Intimfeinde. «Parasite» zeigt auch das: Im sozialen Raum der Distanz kommt man sich manchmal gefährlich nah. So nah, dass der andere sich in dir festsetzt, und irgendwann frisst er dich auf.
Ab 1. August in den Kinos.
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Südkorea in Locarno

Song Kang-ho, der in «Parasite» den verarmten Vater spielt, erhält am 12. August den Excellence Award des 72. Filmfestivals Locarno. Auf der Piazza Grande läuft zu später Stunde dann «Memories of Murder», seine erste Zusammenarbeit mit Regisseur Bong Joon-ho. Dieser ist auch zu Gast und spricht mit Song Kang-Ho am 13. August um 13.30 Uhr im Spazio Cinema über die gemeinsame Arbeit. Das Gespräch wird moderiert von Olivier Père. Zu Ehren von Song zeigt Locarno überdies «The Foul King» (2000), «Sympathy for Mr. Vengeance» (2002) sowie «Parasite». Bild: Keystone
cinefile.ch bietet derzeit eine Auswahl koreanischer Filme zum Streamen an.
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