Jugendwort des JahresWieso «cringe» die perfekte Wahl ist
«Cringe», das beschreibt etwas Peinliches. Es gehört zum Alltag der Jugend – ist aber auch eine Sehnsucht in der Pandemie.
Wer kennt es nicht? Ein Witz über den Arbeitskollegen, bloss steht der gerade hinter einem. Unterwürfigkeit gegenüber dem Chef – vor Publikum. Selbstentblössungen aller Art, vom übereifrigen Engagement und deplatzierten Bekenntnis bis zum Reklamieren ohne Grund.
Unter 1,2 Millionen Vorschlägen haben Jugendliche in Deutschland sich für «cringe» als das Jugendwort des Jahres entschieden, durchgeführt hat das Voting der Langenscheidt-Verlag. «Cringe» steht für «erschaudern» und beschreibt eine körperliche Reaktion auf eine peinliche Situation. Wem sich die Zehennägel aufrollen, der ist voll in der «cringeworthy» Zone.
Letztes Jahr landete «cringe» auf Platz zwei, das Wort hat schon länger Konjunktur. Dass Teenager vieles «cringy» finden, liegt daran, dass sie sich quälen ob der Meinung ihrer Mitmenschen. Alle, die sich fragen, ob ihre Pickel besser zu sehen sind, wenn sie auf den Bus rennen, haben eine geschärfte Wahrnehmung für Peinlichkeiten.
Gerade in der Pandemie, wo wir aus der sozialen Übung sind, scheint «cringe» als Top-Gefühlswort zu passen.
Am liebsten hat man es, wenn anderen etwas Peinliches zustösst. Wie die Youtuber und Tiktokerinnen, die etwas versuchen, das hinten rausgeht, oder die Erwachsenen, die sich anbiedern und ahnungslos bleiben. Aber diese «Fremdscham» gibt es nur im Bezug auf das Eigene, das sich im Sozialen bewegt. Man muss sich schon einmal selber lächerlich vorgekommen sein, um an der Lächerlichkeit der anderen zu leiden. Psychopathen finden nichts «cringy».
Die «cringe comedy» nahm das alles vorweg, «The Office» zeigt einen Teamleiter, der sich um jeden Preis beliebt machen will, ein Meister der Selbsttäuschung. Als Beispiel für die Komik von «Curb Your Enthusiasm» reicht jene Szene, in der die Hauptfigur Larry David in die Runde fragt, wer im Kinderzimmer masturbiert hat.
Gerade in der Pandemie, wo wir aus der sozialen Übung sind, scheint «cringe» als Top-Gefühlswort zu passen. Wir kennen jetzt so ungelenke Begrüssungen wie Ellbogen-zu-halber-Umarmung; wir waren dabei, als dem Maskenverweigerer im Zug die Argumente ausgegangen sind.
In «cringe» steckt aber auch die Sehnsucht nach Nähe zu den Menschen. Denn das Soziale mag in der Peinlichkeit kurzzeitig zusammenbrechen. Aber etwas anderes haben wir nicht.
Pascal Blum hat Soziologie und Geschichte studiert und ist seit 2014 Kulturredaktor. Er hat ein Buchkapitel über Heidi im Film geschrieben.
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