Tempo 30 in Basel-StadtDer Grosse Rat will den Verkehr im ganzen Siedlungsgebiet verlangsamen
Die Kantonsregierung hat nun Zeit für eine Stellungnahme. Danach entscheidet das Parlament, ob das Projekt verbindlich umgesetzt werden soll. Die Debatte zum Nachlesen.
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Mit der Abstimmung beenden wir die Live-Berichterstattung aus dem Grossen Rat und bedanken uns für Ihr Interesse.
Jan Amsler
Der Grosse Rat hat die Tempo-30-Motion mit 50 Ja- gegen 44 Neinstimmen bei 3 Enthaltungen überwiesen. Der Graben verläuft zwischen Links und Rechts: SP, GAB und GLP sind dafür, LDP, SVP, FDP und Mitte-EVP dagegen.
Nun hat die Regierung drei Monate Zeit für eine Stellungnahme. Danach wird das Kantonsparlament erneut über die Motion befinden. Stimmen die Politikerinnen und Politiker dann wiederum zu, bekommt die Regierung einen verbindlichen Auftrag zur Umsetzung. Gemäss Motion hätte sie in diesem Fall zwei Jahre Zeit, um ein Konzept vorzulegen.
Raphael Fuhrer vom Grün-Alternativen Bündnis hat als Letzter das Wort: Er wolle ein Gesamtkonzept statt einen Flickenteppich mit einzelnen Massnahmen.
Der Stop-and-Go-Effekt würde bei Tempo 30 von 25 auf unter 10 Prozent fallen, sagt Fuhrer. Er will damit belegen, dass der Verkehr erwiesenermassen verflüssigt würde. «30 ist das neue 50», sagt Fuhrer. Was in anderen Städten funktioniere, soll auch in Basel kommen.
Als es damals um Tempo 30 in Quartieren ging, gab es auch schon Gegenwehr. «Doch wer wollte heute noch eine Rückkehr zu Tempo 50?», fragt Fuhrer.
Tempo 30 sei auch ohne bauliche Massnahmen möglich. Die Angst, dass Krankenautos hängen bleiben, sei unbegründet.
In der Schweiz gebe es laut Fuhrer keinen dokumentierten Fall von unerwünschtem Ausweichverkehr.
Tempo 30 wirke immer, für Motoren- und Rollgeräusche. Tempo 30 liesse sich im Gegensatz zu Flüsterbelägen sofort umsetzen.
Verkehrsdirektorin Esther Keller: Die Regierung sei bereit, die Motion entgegenzunehmen, um eine erste Auslegeordnung machen zu können. Es gebe Unsicherheiten bezüglich ÖV und Blaulicht.
Die Tempo-30-Debatte läuft in vielen Städten. Es lohne sich, diese Auslegeordnung zu machen.
Basel hat bereits sehr viele verkehrsberuhigte Strassen. Nun stelle sich die Frage, wohin die Reise gehe.
Daniel Albietz von der Fraktion Mitte-EVP sagt, das Gesetz sei vielleicht aus einem Bedürfnis der Stadt entstanden, aber gelte dann für den ganzen Kanton. Im Text seien keine Ausnahmen erwähnt. Für Riehen und Bettingen sehe er deshalb Probleme. Dort brauche es orts- und sachgerechte Lösungen.
SVP-Parlamentarier Lorenz Amiet spricht zur Fahrbahnbreite. Rechtlich sei es möglich, die Strassen bei Tempo 30 zu verschmälern. Es brauche aber auch etwa Umzugslastwagen, ein Zügeln sei mit dem Lastenvelo nicht möglich. Das Gewerbe sei auf grosse Fahrzeuge angewiesen.
Wer mit dem Velo unterwegs ist, werde wohl lieber auf einer breiten Strasse vom Lastwagen überholt als auf einer schmalen, so Amiet.
Dass mit Tempo 30 weniger Schadstoffe ausgestossen werden, «ist richtig bei kurzen Strassen im Quartier und falsch, wenn man bei Strassen weiter als 200 Meter rollen kann».
Verbrennungsmotoren seien im höheren Gang effizienter. 50 zu fahren, spare Treibstoff. Der Verbrauch sei bei Tempo 30 pro Auto um einen halben Deziliter höher, sagt Amiet.
Erstmals spricht ein Grünliberaler: Tobias Christ.
Es sehe so aus, dass der Grosse Rat heute einen Paradigmenwechsel vornehmen werde in Sachen Geschwindigkeitsregelung. Diese Umkehr sei entscheidend: Neu soll Tempo 30 die Regel und Tempo 50 die Ausnahme sein. Die Grünliberalen sind dafür. Der Nutzen würde sich allerdings erst später, wenn die Mobilität generell überdacht wird, richtig entfalten können.
Es sei aber klar, dass Ausnahmen gemacht und flankierende Massnahmen getroffen werden müssen. Es wird mit der Motion ein Konzept gefordert. Auch sei angezeigt, andere Massnahmen wie Flüsterbeläge komplementär umzusetzen.
Daniel Sägesser von der SP nimmt Bezug auf die Blaulichtorganisationen. Der Regierungsrat muss mit der Motion auch die Bedürfnisse der Blaulichtorganisationen berücksichtigen, und gute Lösungen seien möglich.
Auf Bundesebene würden Bestrebungen laufen, um eine Kriminalisierung der Einsatzfahrerinnen- und fahrer zu verhindern, wenn sie zu schnell fahren müssen.
Dass es bei den Blaulicht-Einsätzen um Minuten gehe, werde jenen nicht gerecht, die wegen Tempo 50 verunfallen oder an gesundheitlichen Konsequenzen wegen des Lärms oder wegen der schlechten Luftqualität leiden. Diese Betrachtung sei deshalb zu eng.
Beat Leuthardt (GAB) zeigt Verständnis für die Voten von bürgerlicher Seite. Er sei auch sehr skeptisch gegenüber der Motion. Der Kollektivverkehr solle Vorrang haben gegenüber dem Privatverkehr, sagt Leuthardt, der auch als Tramführer arbeitet. In seinem Weltbild solle Basel von den Autos «befreit werden». Das sei aber nicht Tatsache. Mit einer Verlangsamung des ÖV könne er leben, wenn es separate Busspuren und mehr eigene Trassees für die Trams gebe. Die Bestrebungen im Verkehrsdepartement gingen aber in eine andere Richtung und Eigentrassees würden beseitigt.
Thomas Müry von der LDP sagt, die Motion sei Ausdruck einer «sehr doktrinären Haltung» und gebe vor, genau zu wissen, was die Auswirkungen dieser Änderung wären. Es gebe für jedes Thema Untersuchungen, die die gewünschten Auswirkungen stützen, genauso wie Untersuchungen, die das Gegenteil sagen.
Das Argument der Entschleunigung sei paradox, wenn es doch bei den Velos darum gehe, so schnell wie möglich fahren zu können.
Selbstverständlich soll es Strassen geben mit Tempo 30, sagt Müry. Aber es soll auch Strassen mit flüssigem Verkehr geben, und das sei mit Höchstgeschwindigkeit 50 der Fall.
Lisa Mathys von der SP richtet sich an die Bürgerlichen. Diese würden mehr Lebensqualität und Unfallverhütung ablehnen. Was solle man jenen sagen, die mit überschrittenen Lärm-Grenzwerten leben müssen? Was solle man den Leuten sagen, die ihre Kinder nicht vor dem Haus spielen lassen können? Man könne mit Tempo 30 die Zahl der Verunfallten halbieren, sagt Mathys.
Ausserdem seien die Befürchtungen wegen des Auweichverkehrs nicht bestätigt worden. Die Fakten würden klar für Tempo 30 im Siedlungsgebiet sprechen.
Zu den Blaulichtfahrzeugen: Man müsse vor allem dafür sorgen, dass die Einsatzfahrzeuge nicht im Stau stecken bleiben, sondern durchkommen. Der Verkehr werde entgegen der Befürchtungen von Beat Braun mit Tempo 30 verflüssigt.
Thomas Widmer-Huber von der EVP: «Integral Tempo 30 geht mir zu weit.» In Riehen habe man mit Tempo 40 einen klassischen Kompromiss.
Widmer-Huber geht es ebenfalls um die Polizei- und Rettungsfahrzeuge. Gerade in Riehen sei eine Verlangsamung des Verkehrs diesbezüglich heikel.
Beat Braun (FDP) ergänzt die Gegenargumente. Wenn man den ÖV beschleunige, bedeute dies, das Auto zurückzustellen. Das führe zu Stop-and-Go, was kontraproduktiv sei für die Luft. Zu den Kosten: Es gehe rasch in den zweistelligen Millionenbereich.
Das Potenzial zur Lärmreduktion betrage zwei Dezibel, da gebe es bessere Möglichkeiten, etwa bei den Reifen oder beim Belag.
In einer Zwischenfrage wird bemerkt, dass Studien belegen würden, dass Tempo 30 nicht zu mehr Stop-and-Go führe.
Balz Herter (Mitte-EVP) lehnt die Motion ab. Er nennt die Nachteile: Langsamer ÖV, Mehrkosten durch zusätzliche Linien, schmalere Strassen. Letzteres bedeute ein grösseres Problem für die Blaulichtorganisationen. «Tempo 30 bremst aus», sagt Herter. Es gehe um Menschenleben, und um Sekunden.
Ein weiteres Problem sei der Ausweichverkehr in die Quartiere. Man setze sich auch über Bundesgesetz hinweg, das auf Hauptverkehrsachsen grundsätzlich Tempo 50 vorsehe.
Heidi Mück vom Grün-Alternativen Bündnis stellt klar, dass ihre Fraktion hinter der Motion stehe. Die Argumente aus dem Vorstoss seien alle überzeugend.
Offenbar gab es Schreiben von Anwohnenden, die die Politikerinnen und Politiker darum baten, den Tempo-30-Vorstoss anzunehmen.
Mück selber wohnt an der Kleinhüningerstrasse, wo seit einiger Zeit eine Höchstgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern gilt. Das bedeute mehr Lebensqualität, sagt Mück. Diese Verbesserung soll allen Bewohnerinnen und Bewohnern von Basel gewährt werden. Das Bedürfnis nach Entschleunigung sei gross.
Es gehe auch um Solidarität: Menschen, die an verkehrsorientierten Strassen wohnen, sollen nicht einfach Pech gehabt haben und die Auswirkungen des Verkehrs tragen.
Die Debatte beginnt: Es gehe um eine Teufelsaustreibung, sagt SVP-Vertreter Beat K. Schaller. Unter dem Deckmantel des Lärmschutzes, der Sicherheit und der Klimapolitik würden Autofahrer vergrault.
Schaller will deshalb nicht, dass die Motion überwiesen wird. Der Regierungsrat wiederum zeigt sich bereit, den Vorstoss zur Stellungnahme entgegenzunehmen.
Schaller sagt, dass die Argumente für flächendeckend Tempo 30 nur unter bestimmten Parametern zutreffen würden, etwa bezüglich Verbrauch, Sicherheit, Ausweichverkehr. Er glaubt nicht, dass das in der Praxis funktioniere.
Die Sitzungen des Grossen Rats werden jeweils auch auf Youtube übertragen:
Wird die Tempo-30-Motion heute überwiesen, hat die Regierung drei Monate Zeit, um eine Stellungnahme zu verfassen. Danach kommt der Vorstoss zusammen mit dem Bericht der Regierung erneut ins Parlament. Findet er wiederum eine Mehrheit, muss der Regierungsrat die Forderung umsetzen. In diesem Fall hat er gemäss Motion «binnen zweier Jahre parallel ein Umsetzungskonzept zur Einführung von integral Tempo 30 im Siedlungsgebiet sowie einen umfassenden Massnahmenplan zur tatsächlichen Priorisierung und Beschleunigung des ÖV auszuarbeiten».

Bereits kritisch geäussert hat sich Christian Greif, Geschäftsführer der hiesigen Sektion des Automobil-Clubs ACS. Er befürchtet eine Verkehrsverlagerung in die Quartiere, Mehrkosten für den Wirtschaftsverkehr und negative Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit.
In der Kantonsregierung gibt es Bedenken, dass eine flächendeckende Geschwindigkeitsbegrenzung auch die Blaulichtorganisationen ausbremsen könnte. «Dies kann gerade bei lebensbedrohlichen medizinischen Problemen oder Gefahren für die Patientinnen und Patienten gravierende Auswirkungen haben», sagte Sicherheitsdirektorin Stephanie Eymann (LDP) im Januar im Grossen Rat, als sie Fragen einer Interpellation beantwortete.

In den bürgerlichen Fraktionen wird man heute mehrheitlich gegen den Vorstoss stimmen. Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament sprechen jedoch für eine Überweisung.
Heute gilt innerorts auf Hauptverkehrsachsen meist die Höchstgeschwindigkeit von 50 Stundenkilometern. Künftig soll im ganzen Siedlungsgebiet von Basel-Stadt aber nur noch mit Tempo 30 gefahren werden dürfen. Gleichzeitig sollen flankierende Massnahmen sicherstellen, dass der öffentliche Verkehr dadurch nicht verlangsamt wird. Diesen brisanten Vorschlag haben linksgrüne Politikerinnen und Politiker Ende 2021 in den Grossen Rat eingebracht. Die Idee wird vom Grün-Alternativen Bündnis, der SP und den Grünliberalen unterstützt.
Erstunterzeichner der Motion ist Raphael Fuhrer vom Grün-Alternativen Bündnis. Fuhrer präsidiert die Umwelt-, Verkehrs- und Energiekommission und arbeitet als Verkehrsplaner. Er fordert ein Gesamtkonzept, mit dem eine neue Verkehrskultur geschaffen werden soll. Mit Tempo 30 sollen der Lärmschutz erweitert, die Sicherheit erhöht, die Luftqualität verbessert und Strassenflächen für anderweitige Nutzungen freigespielt werden.

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