Wie Starökonom Piketty Europa retten will
Der Franzose präsentiert Ideen, wie Europa seine Krise überwinden soll. Angesichts der Proteste in Frankreich und der Probleme der EU sind sie besonders brisant.

Thomas Piketty will Europa retten. Diesen Anspruch erhebt der französische Ökonom in einem von ihm verfassten Manifest, das mehrere europäische Zeitungen heute publiziert haben («Manifest, um Europa vor sich selbst zu retten»). Unterzeichnet haben es 50 weitere Personen aus verschiedenen europäischen Ländern, hauptsächlich aber aus Frankreich und Deutschland. Durch sein im Jahr 2013 veröffentlichtes Buch «Das Kapital im 21. Jahrhundert» wurde der Wirtschaftswissenschafter Piketty zwischenzeitlich international gefeiert wie ein Rockstar. Thema jenes Buches und seiner Forschung ist vor allem die starke Zunahme und Zementierung der Ungleichheit.
Das Manifest erscheint nicht zufällig heute. Frankreich, wo Piketty lebt und wirkt, wird von heftigen Protesten der sogenannten Gelbwesten durchgeschüttelt. Die an Zulauf gewinnende Bewegung ist vor allem Ausdruck der Unzufriedenheit und Enttäuschung über die Politik des vor bald zwei Jahren als grosser Hoffnungsträger für Frankreich und Europa gewählten Präsidenten Emmanuel Macron. Durch seine Auftritte und seine Politik nehmen die Franzosen ihren Präsidenten zunehmend als sozial kalt und elitär wahr – als Freund der Reichsten. Vom einstigen Aufbruchsgeist und seiner Beliebtheit ist nichts mehr übrig.
Ärger mit Italien und Reformstau in Brüssel
Auf europäischer Ebene zeichnet sich zudem im Konflikt um die Staatsfinanzen Italiens keine Lösung ab. Während die Europäische Kommission auf einer Einhaltung der Budgetregeln beharrt, will die populistische Regierung in Rom an ihren Ausgabenversprechen weiter festhalten.
Auch der Umstand, dass in der laufenden Woche die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder über eine Reform ihrer Institutionen debattieren, dürfte Piketty für die heutige Publikation seines Manifests motiviert haben. Schon im Vorfeld haben sich bereits die Finanzchefs der Euroländer mit möglichen Reformen befasst, um Vorschläge für das Treffen ihrer Chefs auszuarbeiten. Doch schon dabei wurde einmal mehr deutlich, dass angesichts der Differenzen zwischen den Ländern keine entscheidenden Umbrüche zu erwarten sind.
Piketty geht viel weiter als die Politiker
Die Reformideen, die Piketty in seinem Manifest skizziert, gehen jedenfalls weit über das hinaus, was die Politiker debattieren. Einerseits fordert er vier neue Steuern, die europaweit erhoben werden sollen: eine Unternehmenssteuer für Grosskonzerne, eine Steuer für Grossverdiener (mit einem Jahreseinkommen von mehr als 200'000 Euro), eine Steuer auf Vermögen von mehr als einer Million Euro und eine Abgabe auf Kohlenstoffemissionen. Gesonderte Regeln sollen verhindern, dass mit dem Geld die reicheren Mitgliedsländer für die ärmeren bezahlen, und das Budget daraus soll nicht grösser werden als 4 Prozent des gesamten EU-Bruttoinlandprodukts.
Die neue europaweite Geldquelle soll gemäss Pikettys Manifest auf der gleichen Ebene, aber auch mit einer neuen demokratischen Entscheidungsfindung verkoppelt werden. Geschaffen werden soll eine Art neues Europäisches Parlament, das sich zu 80 Prozent aus Parlamentariern der Mitgliedsländer und zu 20 Prozent aus bisherigen Europaparlamentsmitgliedern zusammensetzen soll. Der Anteil der nationalen Parlamentarier kann gemäss Piketty aber auch kleiner, etwa 50 Prozent, sein. Mit der neuen Institution soll die demokratische Legitimität der gesamten EU gesteigert werden. Damit würde zudem jede nationale Wahl automatisch auch zu einer Europawahl. Dieses neue Parlament soll schliesslich über die Verwendung der Mittel entscheiden, die mit den neuen Steuern erhoben werden. Alle bisherigen Organe der EU will das Manifest aber unberührt lassen, sodass laut Piketty auch keine Änderungen an den bestehenden Europaverträgen nötig würden.
Fehlende «soziale Ambition»
Seinen Vorstoss begründet der französische Ökonom damit, dass es sich Europa nicht mehr leisten könne, mit fundamentalen Reformen weiter zuzuwarten. Das zeige die wachsende Beliebtheit antieuropäischer Politiker in vielen Ländern und der kommende Brexit. Es fehle dem Kontinent eine soziale Ambition. Pikettys Analyse entspricht in diesem Punkt dem von anderen Ökonomen. So hat jüngst auch der italienische Wirtschaftsprofessor Guido Tabellini in Zürich betont, die fehlende Einsicht der europäischen Eliten für die Notwendigkeit von mehr Schutz für die Bürger Europas sei einer der Gründe für die schwindende Begeisterung gegenüber dem europäischen Projekt. Die Lieblingsprojekte der Europolitiker, wie offene Grenzen, offene Märkte und der technologische Fortschritt sorgten dagegen für Verunsicherung und setzten grosse Teile der Bevölkerung einem grossen existenziellen Risiko aus.
Die Chancen, dass Pikettys Vorschläge sich verwirklichen lassen, bleiben aber äusserst gering. Zum einen sind sie nicht komplett neu. Schon im Jahr 2014 hat der Ökonom ein «Manifest für Europa» veröffentlicht – teilweise mit den gleichen Mitunterzeichnern. Piketty wollte damals an Reformvorschläge von deutschen Ökonomen der sogenannten Glienicker-Gruppe anknüpfen, aber deutlich weitergehen. Anders als jene forderte der Franzose schon damals die Erhebung von Steuern auf europäischer Ebene. Schon im damaligen Manifest enthalten war zudem die Idee eines neuen Parlaments, das teilweise aus Mitgliedern der bestehenden nationalen Parlamente bestehen und das existierende Europaparlament ergänzen sollte. Keiner der Vorschläge von damals wurden je ernsthaft von den europäischen Spitzenpolitikern in Erwägung gezogen.
Bescheidene Reformideen sind stark umstritten
Und damit ist auch aktuell nicht zu rechnen. Die von den Finanzministern der Eurozone bereits debattierten Reformen gehen jedenfalls sehr viel weniger weit und sind unter den Mitgliedsländern auch schon stark umstritten. Die besten Chancen haben noch Ideen zu einer Stärkung der Bankenunion oder zu einer ausgeweiteten Rolle des bestehenden Rettungsfonds (ESM). Von einer neuen Vertretung der Bürger beziehungsweise ihrer Parlamentarier oder europaweit erhobenen Steuern ist aber nicht die Rede.
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