Zweitgrösste Privatbibliothek in der SchweizWie in Gottes Namen kommt man zu 100’000 Büchern, Peter Graf?
Der 75-jährige Psychiater hat in Lupsingen ein literarisches Gesamtkunstwerk geschaffen. Begegnung mit einem Anachronisten.

Peter Graf öffnet die Tür und bittet hinein, in eine überaus freundliche Stube in einem durchaus beeindruckenden Bauernhaus – einem Haus, das noch früher jener Ort gewesen ist, wo die Menschen den Zehnten entrichtet haben. «Damals», sagt Graf, und er lächelt dabei mild, «hat es auf dem Dach sogar noch ein hübsches Türmchen gegeben.»
Wie bei einem Schloss …
Und dennoch ist es jetzt nicht gerade so, dass man ausgerechnet hier, in diesem Haus, in Lupsingen, knapp 1500 Einwohner klein, auf den ersten Blick einen funkelnden, glitzernden Schatz erwartet.
Aber wahrscheinlich muss man sagen: Schätze verbergen sich immer dort, wo man sie nicht sucht.
Zuerst ist ein bisschen abtasten, aber man ahnt beim kleinen Rundgang, was einen hier erwarten könnte: ein wunderbares Bibliothekszimmer, im Gang eine Vitrine mit 85 verschiedenen Varianten von «Till Eulenspiegel», hier noch ein Bücherregal, dort noch ein Türmchen mit gestapelten Werken.
Noch ein paar Schritte hoch, in den doppelstöckigen Estrich, und als Erstes: innehalten. Und dann:
Eintauchen.
Schmökern.
Zeit vergessen.
Ein Gesamtkunstwerk
Peter Graf, 75 Jahre alt, Psychiater im Unruhestand (noch immer arbeitet er 50 Prozent in seiner Praxis), hat in seinem Daheim eine Kostbarkeit geschaffen, übermächtig, rekordverdächtig.
100’000 Bücher (wahrscheinlich sind es sogar noch ein paar mehr) lagern hier, manche ganz ordentlich im Regal, andere liegen auf Tischen oder stehen auf dem Boden.
Ein literarisches Gesamtkunstwerk.
Ein Standardwerk einer Sammlung vielleicht auch.
(Als Vergleich: Auf Anfrage sagt die GGG-Stadtbibliothek, dass man etwas über 80’000 Werke in der Hauptfiliale halte – in der Universitätsbibliothek sind es dann deutlich mehr, etwas über drei Millionen …)

Graf sagt: «Das ist die zweitgrösste Privatbibliothek in der Schweiz.» Aber er weiss, wo was ist. Kinderbücher. Jugendbücher. Englische Autoren. Deutsche. Französische. Alles, was es gibt in dieser grossen Welt, eigentlich, «es gibt nichts, was mir nicht in den Estrich kommt».
Es ist eine Ordnung der alten Schule. Eine geordnete Unordnung, Graf’scher Prägung. Erst 6000 Werke sind im sogenannten «Zentralen Verzeichnis Antiquarischer Bücher» digitalisiert – und viele von ihnen haben den Weg schon einmal ins bekannte «Poete-Näscht», eine Buchhandlung und ein Antiquariat, in Liestal gefunden.
Graf hat diesen Kult-Kulturort vor über 20 Jahren eröffnet. Und dass er ihn jetzt neu aufstellt, als Genossenschaft (vgl. Box). Es sollen mehr werden, man arbeitet daran – aber alle? Graf sagt lächelnd, dass das wohl schwierig wird: «Lieber noch möglichst viele lesen.»
Den Restbestand kennt wohl nur er, eine Revision geht nur mit seinem Gehirn. Darum kann er auch nicht ganz aufhören, natürlich kann er das nicht. Denn noch immer läuft es so (und wird es weiterhin so laufen): Sucht im «Poete-Näscht» jemand ein Buch, das gerade nicht greifbar ist, erhält Graf eine Nachricht – «und meistens», sagt er, «kann das gesuchte Werk am nächsten Tag geliefert werden.
Den «heissen Draht», nennt er das, zwischen Lupsingen und Liestal.
Peter Graf macht das alles nicht aus beruflichen Gründen, nicht, weil er ein zweites Standbein bräuchte, das «Poete-Näscht» ist nonprofit; vielmehr sieht er sich als einen «Vermittler fürs Lesen». Das passt ziemlich gut. Und er hat das Glück, dass seine Frau und seine Kinder seine Hingabe mittragen, sich in einem «Haus der Bücher» wohlfühlen.
Elternhaus ohne Bücher
Dabei hat in Grafs Kindheit nichts auf diese Rolle hingedeutet. In seinem Elternhaus hat Literatur keine Rolle gespielt, mehr noch, «wir hatten gar keine Bücher». Mit sechs Jahren kann er trotzdem lesen, seine Leidenschaft entwickelt sich in der Gemeindebibliothek, in der Schule. Und dank eines Cousins, der ihm zu Weihnachten immer ein Buch schenkt.
Heute kennt er die Literaturgeschichte, hat enorm viel ganz gelesen und noch mehr quer (sein Favorit: Siegfried Lenz), aber natürlich nicht alle 100’000 Werke, wie er das immer als Erstes gefragt wird.
Er weiss viel, viel mehr als alle anderen wahrscheinlich – zum Beispiel, dass in den meisten Buchhandlungen die Werke von Jeremias Gotthelf nur noch spärlich aufliegen, von Klassikern wie «Die schwarze Spinne» einmal abgesehen. Graf sagt: «Dabei hat Gotthelf viel mehr zu bieten.»
Wer mehr geboten haben will, der geht ins «Poete-Näscht». Der «heisse Draht» erledigt den Rest.
Was die vielleicht wichtigste Frage aber noch nicht abschliessend beantwortet: Wie in Gottes Namen kommt man zu 100’000 Büchern?
Plastisch und romantisch
Dafür gibt es wohl zwei Erklärungen, eine plastische und eine romantische.
Die plastische: Als Graf mit seiner Familie in den oberen Teil des Baselbiets zieht, macht er mit beim Lupsibärger Märt, stellt einen Bücherstand auf. Das nimmt seinen Fortgang, die Nachbarn, ach was, die ganze Umgebung bringt ihm fortan immer mehr Bücher. Heute wird er in Altersheime gerufen, sichtet Nachlässe.
Die romantische: In Peter Grafs Leben spielt die Sprache eine wichtige, wahrscheinlich gar eine übergeordnete Rolle. Schon früh weiss er, dass er mit Menschen arbeiten will, und wer diesen Wunsch hat, kommt an der Sprache nicht vorbei.
Zuerst will er Lehrer werden, dann Arzt, genauer: Allgemeinpraktiker. Weil er aber merkt, dass die Sprache, die Kommunikation in Spitälern, nun ja, nicht gerade vorrangig behandelt werden, wird er Psychiater.
In diesem Beruf, klar, haben diese Attribute dafür Priorität.
Introspektionsfähigkeit
Nicht nur für ihn, auch für seine Patienten. Graf sagt: «Sprache ist wahnsinnig wichtig – und ungeheuer hilfreich. Durch sie kann man zu sich selbst finden, und sich zurechtfinden auch in dieser Welt.»
Er ermutigt deshalb seine Patienten. Schreibt auf, malt, musiziert. Kurz: Drückt euch aus! «Das hilft, wenn man im Kreis denkt, immer und immer wieder, aber die Dinge nicht loswird.» Das verleiht einem bestenfalls, Achtung: Psychiater-Sprech, eine «Introspektionsfähigkeit», also die Fähigkeit, Emotionen, Fantasien und Handlungsmotive wahrzunehmen.
Auch Peter Graf schreibt jeden Tag. Es hat nach seinem Beruf und der Tätigkeit als Sammler und Antiquar eine dritte Passion: Kurzgeschichten, Erzählungen vor allem.

Was dazu führt, dass er (und er weiss das natürlich auch) vielleicht nicht die allermodernste Version des Menschen verkörpert, eher einem Anachronismus ähnelt.
Aber man muss in diesem Zusammenhang auch mal die Frage stellen dürfen: Driften wir als Gesellschaft wirklich in die richtige Richtung? Man darf durchaus auch zweifeln …
Graf wirkt nicht wie ein Mann, der das eine gegen das andere ausspielen möchte, er wählt seine Worte bedächtig, spricht leise und überlegt. Aber auch er merkt natürlich, dass das Lesen weniger wird. Er beobachtet etwa, dass Bücher für Kinder bis 12 noch immer nachgefragt werden, weil sich da die Mama, der Onkel oder die Grosseltern drum kümmern.
Danach nimmt das Interesse ab, sind Teenager heute wohl eher am Handy als an Hegel interessiert. Graf sagt: «Das Genre, das noch am besten zieht, ist Fantasy.»
Ein bisschen Anarchie
Eine Suche also, nach allem, was nicht ist, der Wunsch, der Realität zu entschwinden, irgendwie, oder, wie Graf sagt: «Der Wunsch nach dem Utopischen, dem Regressiven.»
Weil man die Wirklichkeit nicht mehr aushält?
«Meistens bleibt es eine Phase», sagt Graf, aber man merkt schon: In der Gesellschaft verschieben sich die grossen Linien. Nicht so bei Peter Graf. Bei ihm bleiben die Bücher, bleibt die Sprache im Mittelpunkt.
Wobei, so ganz stimmt das auch nicht. In seinem alten Bauernhaus, das einen funkelnden, glitzernden Schatz beherbergt, finden sich in ein paar Zimmern tatsächlich: keine Bücher.
Weil es sonst ausarten würde? Vielleicht …
Womöglich ist es aber auch einfach nur ein bisschen Anarchie eines Anachronisten …
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