Wie die IV auf Kritik reagiert
Nach einer kritischen Berichterstattung über ihre Begutachtungs- und Rentenpraxis weigert sich die Zürcher IV-Stelle, Fragen zu beantworten – und setzt Druck auf.

Am 11. März 2013 erhielt TA-Chefredaktor Res Strehle von der IV-Stelle Zürich einen eingeschriebenen Brief. Unter dem Betreff «Zusammenarbeit mit Redaktion ‹Tages-Anzeiger›/Anfragen von René Staubli werden nicht mehr beantwortet» heisst es im Text: «René Staubli ist zweifelsfrei ein sehr engagierter Reporter, doch fehlt ihm die notwendige Distanz zu IV-Themen, und er nimmt bewusst in Kauf, Fakten falsch darzustellen oder dem Leser vorzuenthalten. Er hat eine vorgefasste Meinung und ist nicht in der Lage, davon abzuweichen.» Die IV-Stelle sei weiterhin bereit, den TA zu unterstützen, heisst es weiter, «doch gilt dies nicht für René Staubli. Wir werden seine Anfragen in Zukunft nicht mehr bearbeiten.» Absender: Franz Stähli, Direktor der IV-Stelle, und Kommunikationschefin Daniela Aloisi.
Mit ihrem Brief reagierte die IV-Stelle auf die Berichterstattung des TA im Fall Elsbeth Isler zwischen September 2011 und Februar 2013. Die IV hatte Elsbeth Isler 2010 nach sechs Jahren die Rente gestrichen und sie «in einer angepassten körperlichen Tätigkeit» zu 80 Prozent arbeitsfähig erklärt. Als es mit der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt nicht klappte, sprach man ihr die Rente wieder zu – mit der Begründung, sie sei psychisch gestört (siehe Artikellinks).
«Inakzeptable Schlagzeile»
Mit Datum vom 14. März wies Strehle die Vorwürfe der IV-Stelle zurück. Man habe «um nichts anderes gebeten als um die Beantwortung substanziierter Fragen». Und weiter: «Ich kann Ihrem Schreiben keine konkrete Widerlegung eines Faktums entnehmen.» Strehle schrieb, die IV möge ihre Haltung doch bitte überdenken und sich gegebenenfalls an den TA-Ombudsmann wenden.
Als die Reaktion ausblieb, wandte sich der TA per Mail erneut an die IV-Stelle und bat darum, konkret zu belegen, welche Fakten der Reporter «bewusst falsch dargestellt oder dem Leser vorenthalten» habe. Ausserdem möge die IV-Stelle doch bitte die hängigen Fragen beantworten.
Der Bescheid kam am 15. Mai. Bezüglich der «bewusst falsch dargestellten Fakten» schrieb Kommunikationschefin Aloisi: Die Schlagzeile auf der Frontseite des «Tages-Anzeigers» vom 4. Februar – «Uniklinik schreibt auf Drängen der IV Gutachten um» – sei «absolut inakzeptabel» gewesen. Der Reporter habe genau gewusst, dass es sich dabei «nicht um ein Gutachten, sondern um einen Abklärungsbericht» gehandelt habe. Der Leserschaft sei aber suggeriert worden, dass ein Gutachten umgeschrieben worden sei: «Da wurde bewusst Misstrauen geschürt.»
Abenteuerliche Argumentation
Der Vorwurf leuchtet auf den ersten Blick ein, zumal die IV in ihrem täglichen Geschäft tatsächlich zwischen Gutachten und Abklärungsberichten unterscheidet. Im Fall Isler spielt die unterschiedliche Bezeichnung aber keine Rolle. Denn obwohl es sich «nur» um eine Abklärung handelte, hatte der Bericht den gleichen Effekt wie ein Gutachten: Er diente der IV-Stelle als wichtigste Grundlage für ihren Rentenentscheid.
Bezüglich der «vorenthaltenen Fakten» führt die Kommunikationschefin Aloisi Folgendes aus: Der TA habe nicht erwähnt, warum die IV-Stelle die Psychiatrische Universitätsklinik (PUK) darum ersucht habe, den Bericht über die Arbeitsfähigkeit von Elsbeth Isler zu überarbeiten. Die IV-Stelle habe von der PUK im ersten Anlauf wissen wollen, welche Ressourcen Elsbeth Isler «in Bezug auf eine selbstständige Erwerbstätigkeit» habe. Im Aufbautraining in Bülach habe sich anschliessend gezeigt, «dass eine Selbstständigkeit nicht infrage kommt». Daraufhin habe die IV-Stelle die PUK gebeten, die Ressourcen von Elsbeth Isler «im Hinblick auf ein Anstellungsverhältnis zu beurteilen».
Diese Argumentation mutet geradezu abenteuerlich an. Aufgabe der IV ist die Wiedereingliederung handicapierter Menschen in den Arbeitsmarkt. Dass man aus ihnen Selbstständigerwerbende machen will, wie Aloisi vorgibt, wirkt absurd, denn die psychischen und körperlichen Anforderungen an freiberuflich Erwerbstätige sind weit höher als an Angestellte in einer angepassten körperlichen Tätigkeit an einem geeigneten Arbeitsplatz. Die Uniklinik hatte für Elsbeth Isler denn auch ein Aufbau- und Belastungstraining mit dem Ziel einer «dauerhaften Integration im allgemeinen Arbeitsmarkt» empfohlen. Von selbstständiger Erwerbstätigkeit steht im PUK-Bericht kein Wort. Deshalb wird man den Eindruck nicht los, dass die IV-Stelle dieses Argument nur vorschiebt.
Viele Ungereimtheiten
Weitere «falsche» oder der Leserschaft «vorenthaltene Fakten» konnte die IV-Stelle nicht vorbringen. Sie weigert sich aber nach wie vor, Fragen zur «schweren Persönlichkeitsveränderung» zu beantworten, die sie Elsbeth Isler überraschend attestiert hat. Die behauptete Störung wurde in all den Jahren zuvor nirgends diagnostiziert.
Laut IV soll die «schwere Persönlichkeitsveränderung» aber schon seit Jugendjahren bestehen. Festgestellt worden sei sie allerdings erst im Jahr 2005, als Elsbeth Isler in der Schmerzsprechstunde des Zürcher Unispitals von ihrem gewalttätigen, alkoholkranken Vater erzählt habe. Im Bericht des Unispitals, der dem TA vorliegt, steht indessen kein Wort von einer «schweren Persönlichkeitsveränderung». Die IV liess Isler auch nie psychiatrisch untersuchen. Auch teilte sie ihr die happige «Diagnose» nie mit. Isler erfuhr erst im Zuge der TA-Recherchen davon. Wenn Elsbeth Isler aber tatsächlich seit ihrer Jugend unter einer «schweren Persönlichkeitsveränderung» gelitten haben sollte, so hätte ihr die IV-Stelle 2010 die Rente nicht streichen dürfen.
Damit konfrontiert, führte die IV-Stelle gegenüber Isler Folgendes aus: Gerade bei psychischen Diagnosen könne sich die Arbeitsfähigkeit «je nach Krankheitsverlauf immer wieder ändern». Im Laufe der Eingliederungsmassnahmen habe sich eben «gezeigt, dass sich die im Jahre 2005 erstmals festgestellte Persönlichkeitsveränderung in der Zwischenzeit dahin gehend auswirkt, dass eine Tätigkeit im ersten Arbeitsmarkt leider nicht mehr möglich ist». Die IV-Stelle sieht keinen Grund, Elsbeth Isler für die zwischen 2010 und 2012 gestrichenen Renten zu entschädigen.
Rechenschaft schuldig
Unzugänglich zeigt sich auch die Behörde, welche die IV-Stelle beaufsichtigen müsste. Als der TA den Präsidenten des Aufsichtsrats schriftlich zu einer Stellungnahme aufforderte, meldete sich – Daniela Aloisi von der IV-Stelle, wie immer per Mail. Der Präsident habe ihr die Fragen zur Beantwortung weitergeleitet, richtete sie aus, der Aufsichtsrat nehme zu operativen Fragen keine Stellung.
Elsbeth Isler ist durch den jahrelangen Kampf mit der IV zermürbt und finanziell ausgeblutet. Einerseits ist sie froh, dass sie ihre Rente wieder bekommt und davon leben kann. Anderseits sei es nicht leicht zu ertragen, «wenn man ohne jedes ärztliche Attest für psychisch gestört erklärt wird».
Fazit: Die Verantwortlichen der IV-Stelle sollten daran erinnert werden, dass ihre Institution mit Steuergeldern betrieben wird und deshalb der Öffentlichkeit Rechenschaft schuldig ist.
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