Wie die Antarktis «grün» geschrieben wurde
Eine britische Studie über Moose scheint den Klimawandel zu bestätigen, worauf sie trotz Lücken verbreitet wird. Die News zeigt, wie heute Wissenschaft manipuliert und für politische Zwecke eingesetzt wird.

Der Spiegel berichtete, die Zeit, der Österreichische Rundfunk (ORF) und in der Schweiz der Blick, die Tribunes de Genève oder die Lausanner 24heures: Die Antarktis, der riesige, mehrheitlich von Eis bedeckte Kontinent um den Südpol, werde, so die Meldung von Mitte Mai, «immer grüner». Es habe ein «nie da gewesenes Wachstum von Pflanzen» gegeben. Der früher «rein weisse» Kontinent, so hiess es in einer Meldung, ändere nun seine Farbe.
Schuld daran sei der Klimawandel. Ein Team um den Forscher Matthew Amesbury von der Universität Exeter in Grossbritannien habe herausgefunden, dass sich das Wachstum von Moos in den vergangenen 50 Jahren deutlich beschleunigt habe. Das sei eine «dramatische Auswirkung» des Klimawandels. Grüne und Linke sahen sich wieder einmal bestätigt: Den Klimawandel gibt es, er wird vom Menschen verursacht und er verändert die ganze Erde, sogar die Antarktis.
Missbrauch von Wissenschaft
Ein Team um den deutschen Chemiker und Naturschützer Fritz Vahrenholt wollte genauer wissen, was es mit der Nachricht auf sich hat und wie sie den Weg in die Medien gefunden hatte. Und mit jeder genaueren Information fiel die Meldung vom ungeheuerlichen Pflanzenwachstum, wo früher bloss Schnee und Eis regierten, mehr in sich zusammen. Die Rückverfolgung dieser News auf die tatsächliche Untersuchung in der Antarktis zeigt, wie heute Wissenschaft manipuliert und für politische Zwecke eingesetzt wird.
Die Studie der Universität Exeter ist öffentlich zugänglich. Deshalb lässt sich nachlesen, was eigentlich untersucht, was gemessen und wie anschliessend die Daten ausgewertet wurden. Amesbury und sein Team untersuchten nicht alle Pflanzen, sondern ausschliesslich Moose auf drei verschiedenen Inseln, die der antarktischen Halbinsel vorgelagert sind. Diese Landzunge ragt fast 1200 Kilometer von der eigentlichen Antarktis ins Meer hinaus. Die Inseln liegen alle nördlich des 65. Breitengrades. In Europa würde das Orten zwischen Nordnorwegen und dem Süden Finnlands entsprechen – also Gegenden, die für uns nicht wirklich mit der eigentlichen Arktis zusammenhängen. Das ist der erste Fehler der Meldung: Die Behauptung, dass es sich bei diesen vorgelagerten und gar nicht so antarktischen Untersuchungsorten um die ganze Antarktis handle. Das wäre etwa so, meint Vahrenholt, wie wenn man von einer Zunahme von Bränden auf einer britischen Insel die Schlagzeile «Europa verbrennt!» machen würde.
Schon lange grün
Auf den untersuchten Inseln vor der antarktischen Halbinsel gibt es zwar Schnee und Eis, aber auch seit Jahrhunderten Moose und Pflanzen. Ein Fundort heisst sogar «Green Island». Die Insel hat eine Torfschicht, die bis zu zwei Meter dick ist – sie kann also nicht in einigen Jahrzehnten entstanden sein. Das verschweigt die Studie nicht, sondern sie versucht gerade aus diesen alten Torfschichten das Wachstum des Mooses herauszulesen, und zwar bis 150 Jahre zurück in die Vergangenheit. Der zweite Fehler in der verbreiteten Meldung: Die Untersuchungsorte sind nicht plötzlich grün geworden. Sie waren schon grün.
Die Studie stellt nun ein stärkeres Wachstum der Moose in den vergangenen 50 Jahren fest. Die Forscher stellen dieser Erkenntnis die Temperaturen von drei mehr oder weniger nahe gelegenen Messstationen gegenüber. Bei einer Messreihe sind es Temperaturdaten von 1951 bis ins Jahr 2000, bei den beiden anderen von 1969–2000 und 1978–2000. Naturwissenschaftler Fritz Vahrenholt fragte sich beim Lesen der Studie, weshalb die Temperaturdaten nicht bis in die Gegenwart reichen. Die Untersuchung wurde nämlich 2016 fertiggestellt und dieses Jahr in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht.

Vahrenholt machte sich auf die Suche nach den fehlenden Daten ab dem Jahr 2000 und fand sie rasch auf einer Webseite der Nasa, welche die Temperaturdaten von 2165 Messstationen auf der ganzen Welt sammelt, aufbereitet und veröffentlicht. Schnell wird darauf klar, warum die Studie die Daten nur bis ins Jahr 2000 berücksichtigte. Denn bis dahin sind die Temperatursteigerungen am höchsten, und zwar um 0,66 Grad pro Jahrzehnt. Bis 2016 flacht sich dieser Wert hingegen ab, ja er halbiert sich fast auf 0,35 Grad pro Jahrzehnt.
Der Wert wäre noch tiefer, wenn auf die Daten von einer der drei Messstationen verzichtet würde, nämlich die Daten der ukrainischen Station Wernadski. Diese zeigt eine besonders warme Messreihe und ist mittlerweile in der Wissenschaft umstritten, weil sie von den anderen Messreihen der Stationen auf der antarktischen Halbinsel um das Doppelte abweicht.
Die neueren Temperaturdaten, die in der Studie nicht berücksichtigt werden, zeigen Erstaunliches. Von 1999–2014 kühlte sich die antarktische Halbinsel sogar um ein halbes Grad pro Jahrzehnt ab. Das Wissenschaftsmagazin Nature bestätigte die Abkühlung in einem Artikel vor einem Jahr und schrieb, dass sowohl die Erwärmung zwischen 1950 und 1998 als auch die beobachtete Abkühlung seither nichts mit dem Klimawandel, sondern mit der «natürlichen Variabilität» der Temperatur zu tun habe. Das bedeutet aber: Wenn die Temperatur vor Ort nur natürlich schwankt, dann ist es nicht sehr wissenschaftlich, vom Wachstum der Moose auf den Klimawandel zu schliessen. Das ist der dritte Fehler der Meldung im Blätterwald.
Widersprüchliches Moos
Aber was hat es mit dem besonderen Wachstum der Moose tatsächlich auf sich? Dabei spielt die Temperatur sicher eine Rolle, aber nicht ausschliesslich. Auch die relative Feuchtigkeit und die lokalen Begebenheiten dürften entscheidend sein. In der Studie der Universität Exeter wird in verschiedenen Schichten ein Kohlenstoffisotop namens 13C gemessen, dessen Mengen die allgemeinen Wachstumsbedingungen anzeigt. Falls die Temperatur alleine das Wachstum der Moose bestimmen würde, müsste es seit dem Jahr 2000 eigentlich wieder zurückgehen. Interessant an der Studie ist nun, dass die Messung dieses Isotops 13C teilweise unterschiedliche, ja gegenteilige Resultate ergibt, und zwar bei Messungen, die nur wenige hundert Meter voneinander entfernt gemacht wurden.
Die Wissenschaftler aus Exeter erklären die Unterschiede in ihren Messungen damit, dass eben nicht nur die Temperatur, sondern auch lokale Begebenheiten und die Feuchte beim Wachstum von Moos eine Rolle spielen. An der Studie sind also nicht nur die Temperaturdaten fragwürdig, sondern auch die Messungen des Mooswachstums. Aber genau den Zusammenhang von beidem unterstellt die Meldung über die plötzlich grüner werdende Antarktis. Das ist der vierte Fehler.
Was bedeutet das für die künftige Entwicklung des Klimas auf der Antarktis? Die antarktische Halbinsel entwickelt sich nur punktuell so, wie es in den Klimamodellen erwartet wird. Nur ein Viertel der beobachteten Temperaturen entspricht den im Voraus berechneten Modellen, sagt Vahrenholt. Wesentlich für diesen Wert verantwortlich ist die erwähnte Messstation Wernadski, deren Werte aus der Reihe tanzen. Der ganze Rest der Antarktis, auch grosse Teile der antarktischen Halbinsel, kann mit den Modellen gar nicht erklärt werden. Wie grün die Antarktis also tatsächlich noch wird, lässt sich nicht sagen. Der fünfte Fehler.
Abkühlung weglassen
Was bleibt von der ursprünglichen Meldung? Die Antarktis wird nicht «immer grüner». Moose hat es auf der antarktischen Halbinsel vermutlich immer schon gegeben. Es gibt Hinweise, dass sie zwischen 1950 und dem Jahr 2000 deutlich stärker gewachsen sind als vorher. Ob wegen der gleichzeitig gestiegenen Temperatur oder aus anderen Gründen, ist unklar. Der Temperaturanstieg in jenen Jahren wird jedoch tendenziell überschätzt. Seit dem Jahr 2000 gibt es gar eine Abkühlung, die in der Studie weggelassen wird. Und wie grün die Inseln weit vor dem eigentlichen antarktischen Festland in zehn Jahren sein werden, das weiss aufgrund dieser Studie niemand.
Amesbury und sein Team von der Uni Exeter haben zwar nicht gelogen, aber wichtige wissenschaftliche Daten und Zusammenhänge weggelassen, damit ihre Untersuchung in den wissenschaftlichen Trend und das Vorurteil von Journalisten passt. Und die Medien haben die Nachricht ungeprüft aufgenommen und unzulässig so zugespitzt, dass sie bestätigt, was die Journalisten glauben.
Mit der kritischen Lektüre der Untersuchung ist zwar nicht bewiesen, dass es keinen Klimawandel gibt. Aber es ist bewiesen, dass sich die genaue Durchsicht von wissenschaftlichen Studien lohnt, bevor es zu Schlagzeilen kommt wie «Antarktis wird immer grüner!». Es ist alles ein bisschen komplizierter. Und der Vollständigkeit halber noch etwas: Ob der Klimawandel durch den Menschen gemacht wurde, war gar nie Gegenstand der Untersuchung.
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