Wie Asylsuchende schikaniert werden
Kollektivstrafen und mangelnde Babynahrung: Protokolle zeigen, wie rigoros die Betreuungsfirma ORS im Asylheim Aesch vorging.

Ende 2016 schloss das Bundesasylheim in Aesch seine Tore. Die Aussenstelle des Basler Empfangs- und Verfahrenszentrums war in der Zivilschutzanlage, also unter Tage, eingerichtet worden. Betreut hat die Asylsuchenden die ORS Service AG, die in der Region auch die Bundesasylzentren in Basel, Allschwil und Muttenz betreibt. Immer wieder steht die Zürcher ORS AG medial in der Kritik – primär, weil sie zusammen mit ihrer Tochterfirma gegen 100 Millionen Franken Umsatz macht.
Der BaZ liegen nun mehrere interne Protokolle der ORS vor, die belegen, dass beispielsweise Kollektivstrafen in Aesch an der Tagesordnung waren. Das bestätigen auch ORS-nahe Kreise. Deren Anonymität muss gewahrt werden, weil die Arbeitsverträge der Mitarbeitenden auch nach Beendigung der Anstellung zum Stillschweigen verpflichten.

70 bis 100 Asylsuchende, Männer, Frauen und Kinder, wurden seit November 2015 in Aesch für eine, drei oder mehr Wochen einquartiert und von zwölf Betreuern begleitet. Üblich ist, dass es einige klare Regeln zu befolgen gilt, damit das Leben all dieser Menschen auf kleinem Raum geregelt ist und konfliktfrei ablaufen kann. Es ist beispielsweise aus Hygienegründen nicht erlaubt, Essen in die Zimmer, respektive in den Massenschlag zu nehmen. Doch ehemalige Mitarbeitende berichten von ganz anderen Gepflogenheiten. Viele Vorwürfe lassen sich nicht belegen, andere jedoch schon – sie sind in den Protokollen der ORS festgehalten. Genannt werden darin die an den Teamsitzungen ausgegebenen Regeln.
Ein Thema sind Sanktionen. Eine Regel besagt, dass die Asylsuchenden, die zum Putzdienst eingeteilt sind, pünktlich zu erscheinen haben. Wer diese Regel verletzte und beispielsweise mehr als fünf Minuten zu spät kam, wurde für den nächsten Tag wieder auf die Putzliste gesetzt. So weit, so banal. Doch der Fehlbare musste nicht nur am nächsten Tag wieder putzen, er wurde zusätzlich für den ganzen Tag «gesperrt» oder «blockiert». Das bedeutet gemäss ORS-nahem Kreisen, dass der Asylsuchende den ganzen Tag in der Zivilschutzanlage bleiben musste, und zum Teil nicht einmal zum Luftschnappen oder Rauchen an die Oberfläche durfte. Je nachdem, welche Betreuer Dienst hatten, habe der sanktionierte Asylsuchende im Aufgang zur Oberfläche rauchen dürfen. In einem Protokoll wird diese Bestrafung so festgehalten: «Falls GS (Gesuchssteller, Anm. d. Red.) mehr als 5 min zum Putzen zu spät kommen, sind diese am nächsten Tag wieder auf der Putzliste und werden ausserdem noch Blockiert.»
Babybrei war nicht vorhanden
Ein anderes Beispiel sind Kollektivstrafen. Jeden Morgen wurden durch die Betreuer, flankiert von Securitas-Mitarbeitern, Zimmerkontrollen durchgeführt. Ein Massenschlag bietet durchschnittlich 15 Personen Platz. Die Zimmer, so die Regel, müssen aufgeräumt und sauber gehalten werden. Doch sollte nur eine Person ihr Bett nicht gemacht haben, dann bestrafte die ORS gleich alle 15 Zimmergenossen. Sie wurden für den ganzen Tag «gesperrt» – mussten also in der Anlage unter dem Boden verharren. Diese Form der Kollektivstrafe ist eindeutig protokolliert: «Die Zimmerkontrolle wird um 8.30 Uhr von Securitas in Begleitung von einem Betreuer durchgeführt. Die Zimmer müssen immer sauber und aufgeräumt sein, die Decken bezogen und die Betten gemacht. Sollte dies nicht der Fall sein, werden alle GS aus dem Zimmer gesperrt.»
Eine weitere umstrittene Regelung betrifft das Essen. Hierbei können die Meinungen, was angebracht ist und was nicht, wohl auseinandergehen, doch die Beispiele zeigen, dass das Leben in der Zivilschutzanlage in Aesch kein Zuckerschlecken war. Brot war rationiert, wie der BaZ berichtet wird, auf eine Scheibe pro Mahlzeit, zum Frühstück jedoch gab es zwei Scheiben und je eine Portion Butter und Konfitüre. Zudem habe es kaum Gemüse und Früchte gegeben; Obst zum Teil nur alle drei Tage. Eine Regel aber fällt besonders auf: Eltern mussten Kindernahrung, etwa Brei für ihre Kleinkinder, selber kaufen. Im Protokoll heisst es: «GS erhalten Taschengeld, mit diesem können sich die Mütter Nahrung für ihre Kinder Kaufen, falls diese nachts Hunger haben.» Das Taschengeld: drei Franken pro Tag und Person.
Einen Schoppen pro Tag
Babymilch war ebenfalls rationiert. Zum Frühstück gab es zwar ein Glas Milch pro Person. Eltern von Babys durften nach dem Mittagessen Milch in einer Babyflasche beziehen. Damit hatte es sich. Weitere Milchschoppen bekamen die Eltern offenbar nicht. Ein ehemaliger Mitarbeiter erzählt von Eltern, die mitten in der Nacht für ihr schreiendes Kind nach Milch fragten, doch diese sei ihnen verweigert worden. In einem Protokoll ist vermerkt: «Milchabgabe für Kinder kann nach dem Mittagessen in Schoppen abgegeben werden. Um 16 Uhr ‹Milchstrasse›: Obst wenn vorhanden, Cornflakes in Schälchen und Milch in Glas (wird sonst zu Brei), OHNE ZUCKER UND OHNE HONIG.» Die Liste der Vorfälle, welche in ORS-nahen Kreisen als «Schikane» bezeichnet werden, ist lang.
Zudem wird von einer hohen Fluktuation bei den Betreuern berichtet, und dass man sich mit Kritik an den Regeln zurückhielt, weil man auf den Job angewiesen war. Wurde dennoch Kritik geäussert, habe die ORS mit der Kündigung gedroht und zudem auf die vertraglich vereinbarte Schweigepflicht hinsichtlich den Arbeitsmethoden des Arbeitgebers hingewiesen. Auch sonst haben diese ORS-nahen Kreise ihren einstigen Arbeitgeber und dessen Umgang mit ihnen aus persönlicher Betroffenheit nicht sehr geschätzt.
Die BaZ konfrontierte die ORS Service AG bereits am Freitag mit den Vorwürfen. Die Fragen: Gehören Kollektivstrafen und «Sperrungen» zu den üblichen Arbeitsmethoden der ORS? Auf welcher rechtlichen Grundlage verhängt die ORS Kollektivstrafen und verbietet Asylsuchenden das Verlassen der Zivilschutzanlage? Ist es üblich, dass Kleinkinder nur einen Schoppen pro Tag erhalten und Eltern Babynahrung selber kaufen müssen? ORS-Sprecherin Simona Gambini schreibt in ihrer Antwort-E-Mail: «Ich bitte Sie, sich an das Staatssekretariat für Migration zu wenden. Die Medienstelle wird Ihre Fragen gerne beantworten.» Ein Kopie der Antwort ging zugleich an das Staatssekretariat für Migration (SEM). Das SEM liess die Fragen unbeantwortet und dementierte nach tagelangem Hin und Her schliesslich sämtliche Vorwürfe.
Die BaZ sprach ebenfalls bereits am Freitag mit SEM-Kommunikationschef Martin Reichlin. Er wollte wissen, welche Unterlagen genau der BaZ vorliegen würden und betonte, dass die Vorkommnisse in Aesch womöglich ein Einzelfall seien. Am Montagabend rief Reichlin die BaZ an. Zu diesem Zeitpunkt hatte das SEM noch immer keine einzige Frage beantwortet. Stattdessen vermutete der SEM-Sprecher nun, dass der BaZ nur irgendein Reklamations-Brief mit genannten Vorwürfen vorliegen würde, die BaZ aber die problematischen ORS-Regeln nicht belegen könne. Nachdem er auf seine vehemente Aufforderung hin Protokollausschnitte über die Kollektivstrafen samt «Sperrungen» vernahm, sagte Reichlin, dass er bei den Antworten den Begriff «gesperrt» neu interpretieren werde.
Bund dementiert Vorwürfe
Am Dienstagvormittag schliesslich nahm das SEM offiziell Stellung: Man habe nur eine Reklamation erhalten und das Gespräch mit der ORS gesucht. «Die vorgebrachten Kritikpunkte wurden zur Kenntnis genommen und wo Bedarf bestand, wurden Verbesserungsmassnahmen eingeleitet», schreibt SEM-Sprecher Reichlin. Wo «Bedarf» bestand und was «verbessert» wurde, sagt Reichlin nicht. Die konkreten Vorwürfe aber dementiert das SEM.
Zur im ORS-Protokoll schwarz auf weiss festgehaltenen Kollektivstrafe sagt Reichlin: «Kollektives Strafen duldet das SEM nicht.» Eine solche Massnahme sei auch mit dem Leitbild der Betreuungsfirma ORS nicht vereinbar. Es sei dem SEM bekannt, dass in einem Fall die Asylsuchenden eines Zimmers die Unterkunft erst verlassen durften, als die Zimmerordnung des ganzen Raums erstellt war. Ein ganztägiges «Sperren» wegen fehlender Zimmerordnung habe es nicht gegeben. Und zum Vorwurf der mangelnden Ernährung für Babys heisst es beim Migrationsamt des Bundes: «Diese Kritik trifft nicht zu. Kleinkinder haben auf Verlangen und nach Bedarf adäquate Kindernahrung erhalten.»
Ähnliche Vorwürfe an die ORS für ihre Methoden wurden schon vor fünf Jahren im Asylzentrum im luzernischen Eigenthal erhoben. Damals liess der Bund auf Druck einer Interpellation im Nationalrat die Vorwürfe extern abklären. Der Schlussbericht kritisierte die ORS unter anderem wegen schikanöser Durchsetzung der Hausordnung, willkürlichen Sanktionen und nicht genügendem Essen.
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