Wochenduell: Fussball-EMWerden die Schweizer nun Europameister?
Nach dem spektakulären Sieg gegen die Franzosen will das Team von Trainer Vladimir Petkovic nun auch im Viertelfinal gegen Spanien überzeugen. Und reicht es sogar noch für mehr?

Ja: Die Schweiz ist eine Stimmungsmannschaft, die jetzt in Stimmung für Grosses ist.
Wer den Weltmeister besiegt, kann jeden schlagen. Ein Satz, der für die Schweizer Nationalmannschaft so viel mehr ist als eine blosse Floskel. Unter Vladimir Petkovic hat sie gelernt, wie sie gegen die grossen Namen bestehen kann. Ohne den Bus vor dem eigenen Tor zu parkieren à la Schweden, sondern mit attraktivem, offensivem, dominantem Fussball. Nach dem Achtelfinal gegen die Ukraine an der WM 2006 wurde im Ausland über das schlechteste Fussballspiel der WM-Geschichte geschrieben, am Montag nun hat die Schweiz zu einem der grossartigsten Fussballabende überhaupt beigetragen.
Plötzlich ist es die Nations League, dieser Wettbewerb, der doch eigentlich wirklich niemand braucht, die für die Schweizer der Türöffner zur ganz grossen Sensation werden könnte. Gegen Deutschland und Spanien remis gespielt, Belgien 5:2 geschlagen und gegen England erst im Elfmeterschiessen verloren. Resultate, die Mut machen, die zeigen: Die Schweiz ist auch im späteren Verlauf eines Turniers kein Aussenseiter. Sie ist eine Stimmungsmannschaft, die jetzt in Stimmung ist. In einem Turnier, in dem die Grossen auch mal straucheln, in dem der vermeintlich Kleinere die Sensation eben auch mal über die Zeit bringt und nicht in der 85. Minute doch noch ein unnötiges Tor kassiert. Und in dem die Stars je länger, je mehr an ihre Grenzen kommen nach einer langen Corona-Saison, die diverse Schweizer mehrheitlich auf gemütlichen Stühlen an der Seitenlinie verbracht haben und nun fit sind. Frankfurt-Bankdrücker Zuber etwa. Oder Liverpool-Bänkliwärmer Shaqiri.
Aber Granit Xhaka ist doch jetzt gesperrt? Gegen die angezählten Spanier reichts auch ohne den Captain. Dieser ist dafür im Halbfinal frisch, um sich gegen Italien zu revanchieren oder dafür zu sorgen, dass die Belgier auch weiterhin bloss ein Geheimfavoriten bleiben. Und im Final wartet dann ein Team aus der klar schwächeren Tableauhälfte. Vielleicht sogar England. Im Wembley. Ein Triumph gegen das Mutterland des Fussballs – man müsste Petkovic eine Statue bauen.
Die Zeit der Zweifel ist vorbei. Jetzt ist Zeit für Entschädigung. Entschädigung für all den Schmerz, den die Schweizer in den vergangenen Turnieren ausgelöst und ertragen haben. In den Penaltydramen gegen die Ukraine und Polen, im Pfostendrama gegen Argentinien oder in der einfach nur unnötigen Niederlage gegen Schweden. Es gilt, was Xhaka seinen Kollegen vor der Verlängerung mitgegeben hat: «Wir waren ganz klar die bessere Mannschaft und haben es verdient, Geschichte zu schreiben. Konzentriert, ruhig – wir machen das. Wir machen das!» So peitscht man ein Team zur Sensation, so wird man Europameister. Fabian Löw
Nein: Ein gutes Spiel macht die Schweiz nicht zum Favoriten. Die Spanier werden das Team kaum unterschätzen, wie Frankreich es getan hat.
Zugegeben, die Schweizer Fussball Nationalmannschaft zeigte im EM-Achtelfinal gegen die Franzosen einen starken Auftritt. Defensiv hatte das Trio Manuel Akanji, Ricardo Rodriguez und Nico Elvedi mit Ausnahme der 15 Minuten nach dem verschossenen Elfmeter die Weltstars der Franzosen um Kilian Mbappé und Karim Benzema unter Kontrolle. Im Angriff zeigten sich die Schweizer zudem effizient und nutzten ihre Möglichkeiten eiskalt aus. Und auch als Team funktionierte die Mannschaft von Vladimir Petkovic ausgezeichnet.
Doch die gute Leistung der Schweiz lässt sich zu einem grossen Teil auch mit dem Auftritt der Franzosen erklären. Der Weltmeister von 2018 spielte arrogant und pomadig. Erschwerend kommt hinzu, dass er nach dem 3:1 komplett den Betrieb einstellte und in den Verwaltungsmodus schaltete. Daraus fanden die Franzosen nach dem Schweizer Ausgleich nicht mehr hinaus. In der Verlängerung hatte man nur noch selten das Gefühl, dass die Mannschaft von Didier Deschamps das Spiel vor dem Elfmeterschiessen für sich entscheiden kann.
Gut möglich auch, dass Frankreich die Schweiz unterschätzt hat. Das wird den Spaniern, dem Gegner der Schweiz am Freitag, kaum mehr passieren. Die Spanier wissen nicht erst seit dem Schweizer Achtelfinal gegen Frankreich, dass man sie an einem grossen Turnier nicht unterschätzen darf. Ausserdem scheint Spanien rechtzeitig an der Euro 2020 angekommen zu sein. In den letzten beiden Spielen hat das Team von Luis Enrique zehn Treffer erzielt und einen deutlich verbesserten Eindruck hinterlassen.
Gegen die Schweiz als Europameister spricht auch, dass sie es gegen Frankreich erneut nicht geschafft hat, ihre Performance über 90 Minuten durchzuziehen. Ein Einbruch wie nach dem verschossenen Elfmeter darf die Mannschaft sich kein zweites Mal leisten. Bisher allerdings hatte das Nationalteam in jedem Spiel eine Phase, in welcher man sich kollektiv eine Auszeit gönnte. Das wird kein weiteres Mal gut gehen.
Und selbst wenn die Schweizer die Spanier schlagen und sich für die Halbfinals qualifizieren sollten, würden dort mit Belgien oder Italien Gegner warten, die eine Nummer zu gross sind. Die Italiener haben der Schweiz bereits in der Gruppenphase ihre Grenzen aufgezeigt. Und auch die Belgier sind stärker einzustufen. Die goldene belgische Generation will endlich ihren ersten Titel holen und ist dabei kaum zu stoppen. Egal, auf welche Mannschaft die Schweiz im Halbfinal also trifft: Spätestens in der Runde der letzten vier wird das Sommermärchen für die Schweiz beendet sein. Luc Durisch
* Das Wochenduell: Die «Basler Zeitung» stellt sich ab sofort in regelmässigem Abstand Themen, die die Sportwelt bewegen – und beleuchtet dabei in einem Pro und einem Kontra beide Seiten. Zuletzt erschienen: War die Europameisterschaft bisher ein Fussballfest?Ist Novak Djokovic der beste Spieler der Geschichte?Erlebt der Radsport einen Boom?Werden die Starwings auch in Zukunft Titelanwärter sein?
Fehler gefunden?Jetzt melden.