Wenn uns die Welt entgleitet
Der Zürcher Hausregisseur Alexander Giesche liest Max Frischs «Der Mensch erscheint im Holozän» als irrlichterndes Gedicht übers weisse Rauschen im Kopf.

Eine zarte Kinderstimme haucht uns einen blauen Tessiner Himmel ins Pfauenfoyer, den «Duft von Lavendel und ein grünes Tal, waldig wie zur Steinzeit».
Erst dann gehts ab in den dunklen Theatersaal, auf dessen Bühne spiegelnde, schwarze Balken einen Rahmen bilden wie für eine überdimensionierte Todesanzeige (Bühne: Nadja Fistarol). Diese wiederum findet man klein gedruckt mittendrin im Programmheft zu «Der Mensch erscheint im Holozän: Ein Visual Poem nach der Erzählung von Max Frisch» – ins Theater hineingeschimmert von Alexander Giesche. Der 1982 in München geborene, neue Zürcher Hausregisseur druckt im Heft eine Anzeige ab für Max Rudolf Frisch, 1911 bis 1991, und eine für Wolfgang Giesche, 1947 bis 2019.
Und der Regen rauscht
Auf den Brettern aber lässt der Regisseur und visuelle Dichter seine zwei Schauspieler erst einmal munter in Rollstühlen sausen und kreiseln wie Kinder, die Fez machen. Wie wieder Kind gewordene Alte. Karin Pfamatter und Maximilian Reichert tragen farbenfrohe Fleecejacken mit pinken Applikationen und wirbeln noch herum, als sich der Vorhang langsam senkt: als Projektionsfläche für den Stücktitel samt der Information «Fiktion, 1979».
Und der Regen rauscht. Prasselt. Tost. Plätschert. Die Lichtorgel singt dazu ihr Lied in Rot, Blau, Grün, Orange, Pink – und Missy Elliott ihr «I Can't Stand The Rain.». Zeit für die ersten Wörter aus Frischs 150-seitiger Erzählung, eingeblendet: «Es müsste möglich sein ...» Es müsse doch möglich sein, «ein Tal zu erzählen», nervte sich der Schweizer Schriftsteller, als er sich zum dritten Mal an seine Tessiner Geschichte setzte. Seinen Helden Herrn Geiser freilich lässt er zu Beginn an der Aufgabe verzweifeln, «eine Pagode zu türmen aus Knäckebrot» und dabei nichts zu denken, nichts zu hören, keinen Donner, keinen Regen.
Gletscher schmelzen, Berge rutschen, Böden erodieren. Und die Erinnerung wird löchrig.
Herr Geiser wirds nicht schaffen. Aber Frisch erzählt am Ende viel mehr als ein Tal. In seiner fugischen Pagoden-Prosa mit den eingefügten Dokumentschnipseln fasst er die Endlichkeit des Menschen und die Ewigkeit der Erde. Geiser, der nach der Pensionierung von Basel ins Dorf zog, hat Partnerin und Katze verloren; nun verliert er das Gedächtnis. Lexikon- und Zeitungsausschnitte sowie selbst gekritzelte Wissensfetzen, die er retten will, pappt er an die Hauswände. Als schliesslich ein grosser Regen das Dorf vom Rest der Welt trennt, trennt auch er sich fast davon.
Es gibt keine feste Burg im Leben: Gletscher schmelzen, Berge rutschen, Böden erodieren. Und die Erinnerung wird löchrig, wenn die Alzheimer-Plaques sich ins Hirn schieben. Was bleibt, ist Rauschen. Regenrauschen, weisses Rauschen, wabriger Nebel. Watte im Kopf. Und, im Goldwäschertal, das Tasten nach den kleinen, harten Nuggets der Erinnerung.
Herrn Geisers Lage ist die eines Bergsteigers, der sich verstiegen hat, aufs rettende Seil hofft – so wie seinerzeit am Matterhorn. Der Bruder hatte ihm die Leine zugeworfen, doch jetzt kommt keine. Romane lesen? Lieber nicht, findet Herr Geiser. Denn da geht es um Menschen, Beziehungen – «als sei das Gelände dafür gesichert». Dabei gilt: Gesichert ist gar nichts.

Die ins Bild gesetzte Unsicherheit allerdings, das unerbittliche Entgleiten der Wirklichkeit – hatte man sie je im Griff? –, die ist ein Fixum und garantiert in Giesches fliessender, musikalischer, analog-digitaler Soiree mit ihren spektakulär beleuchteten Regenschauern, ihren Windmaschinenorkanen, Gedächtnis-Duetten. Das Doppel Pfamatter und Reichert spielt sich die Geiser-Gedanken und «Holozän»-Motive zu wie Bälle eines bittersüssen Spiels, das man nicht gewinnen kann. Auch die sechs Statisterie-Kinder auf der Bühne bewältigen ihren Hindernisparcours nicht fehlerlos. Mal hockt das Schauspielerduo auf einem Baumstamm, mal stehts im Raum wie bestellt und nicht abgeholt, wagt eine geradezu heitere Statik – verblüffend fesselnd.
Immerzu ist da eine Wand zwischen Mensch und Welt: Regenwand oder Plexiglaswand, Felswand, Vorhangwand, Foyerwand. Geisers kaputter Kopf macht etwa den Feuersalamander zum Velociraptor, und Giesche hält uns das Urvieh gleich lebensgross vor die Nase. Ebenso wie Krankenbett, Kletterseil und ein fantastisches Hologramm-Ballett der Erinnerungen, das sogar die zerstörte Notre-Dame de Paris wieder heil in die Luft zaubert.
Der Regisseur hat ein reiches Memory für uns ausgelegt, derweil aus dem Off der mentale Ausstieg beträllert wird wie anfangs. «I'm going where the sun keeps shining through the pouring rain.» Heimatsuche mit Giesche: Nein, sie hat nicht die Kraft und den Sog von Frischs unsentimentalem Text. Aber seinen Stoff und durchaus auch seine Feinstofflichkeit.
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