«Wenn ich von Tier-KZ rede, werde ich gehört»
Erwin Kessler sagt, er müsse provozieren, um etwas zu verändern. Ein Gespräch über Tierschutz und seine Grenzen.

BaZ: Herr Kessler, wir sitzen hier im Hiltl, einem alten vegetarischen Restaurant in Zürich. Ist das ein Zufall, oder wollen Sie uns umerziehen?
Erwin Kessler: Eigentlich bevorzuge ich vegane Restaurants, aber das Hiltl ist günstig gelegen. Ich lebte lange vegetarisch, bis ich merkte, dass das nicht genügt. Wenn man weiss, wie Hühner und Kühe leiden müssen, damit wir Eier und Milch auf dem Tisch haben, kann man das nicht mehr verantworten.
Sie können auf Bioprodukte ausweichen. Es hat sich unter den Bauern herumgesprochen, dass man damit neue Kunden gewinnt.
Mumpitz! Die Kühe werden überzüchtet und können mit ihren Hochleistungseutern kaum mehr laufen. Regelmässig werden ihnen die Kälber weggenommen. Das ist brutal. Oder die Hühner: Freilandeier stammen aus Tierfabriken mit Tausenden Hühnern, wo jedes Huhn jeden Tag ein Ei legen muss – was vollkommen unnatürlich ist. Der Verein gegen Tierfabriken, den ich präsidiere, betreibt eine Auffangstation für solche Hühner. Wenn Sie es einmal mit ausgebeuteten Tieren zu tun gehabt haben, verstehen Sie vielleicht, was ich meine.
Was erleben Sie mit diesen Tieren?
Ein Huhn, das jeden Tag ein Ei legen musste, ist ein trauriger Anblick. Die Tiere sind körperlich und seelisch erschöpft und dauernd krank, blühen aber nach einer Schonzeit wieder auf. Man denkt ja: Ein Huhn ist ein Huhn. Aber jedes ist anders, da war ich selbst überrascht. Das eine isst gerne Rosinen, das andere mag lieber Sonnenblumenkernen. Eines unserer Hühner kommt jeden Tag zur gleichen Zeit auf unsere Terrasse und gackert, bis wir es in die Wohnung lassen. Dann spaziert es eine Weile herum, um dann zufrieden wieder zu den anderen zurückzukehren.
Bei aller Sentimentalität: Tiere sind keine Menschen.
Es sind Lebewesen! Natürlich gibt es Unterschiede. Für mich sind Tiere vergleichbar mit Kleinkindern. Sie brauchen einen ähnlichen Schutz. Wenn Sie erleben, wie eine Kuh, die jedes Jahr von ihrem neugeborenen Kalb getrennt wurde – wie eine solche Kuh sich verändert, sobald sie realisiert, dass sie nun besser behandelt wird, dann ist das ergreifend. Das hat mich verändert. Ich bin heute überzeugt, dass der Veganismus in unserer Zeit die einzig richtige Lebensweise ist.
War das einmal anders? Finden Sie, die Menschen hatten einst ein Recht darauf, ab und zu ein Tier zu essen?
Ja, denn die Höhlenbewohner in unseren Breitengraden waren im Winter auf Tierisches angewiesen, um zu überleben. Heute sind wir in einer völlig anderen Situation. Es gibt so viele gute, gesunde Lebensmittel zu allen Jahreszeiten. Wir haben es schlicht nicht mehr nötig, Tiere zu missbrauchen und zu töten, um uns zu ernähren.
Das Tierschutzgesetz wird doch laufend verschärft. Kann man da wirklich von Missbrauch reden?
Das ist alles Kosmetik, um die Konsumenten zu beruhigen, und nicht wirklich zum Schutz der Tiere. Die Biobetriebe sind nicht das, was die Werbung der Grossverteiler verspricht. Da wird viel beschönigt und falsch dargestellt. Auch Biobetriebe setzen auf Hochleistungstiere. Lesen Sie unsere Vereinszeitschrift. Wir haben viele Fälle recherchiert.
In der Werbung wird oft übertrieben und beschönigt. Das ist normal, damit können die Konsumenten umgehen.
Nein, viele Konsumenten lassen sich von der Werbung täuschen, sonst würden nicht so enorme Beträge in Werbung investiert. Man spiegelt den Leuten etwas vor, was nicht ist. Das bekämpfe ich massiv, auch mit Provokationen, die mich in die Medien bringen. Klartext, oft undiplomatisch und politisch unkorrekt, ist mein Markenzeichen. Aber ich provoziere nie zum Selbstzweck, sondern um Menschen aufzurütteln und ihnen die Augen für ein grosses Unrecht zu öffnen.
Geben Sie uns ein Beispiel.
Als am Bürkliplatz in Zürich einmal versehentlich zwei Fischer überfahren wurden, sagte ich: «Jetzt haben die Fische zwei Tierquäler weniger zu fürchten.» Der Blick griff das sofort auf – und ich schuf damit die nötige Aufmerksamkeit für das Leiden der Fische bei diesem Freizeitvergnügen.
Was ist mit den Angehörigen? Denken Sie an diese Leute, wenn Sie so etwas in der Zeitung sagen?
Ich habe die Fischer ja nicht umgebracht! Fischen ist ein Sport, der Fischen unnötiges Leid zufügt. Sollen Fische leiden, nur weil wir Menschen unseren Spass haben wollen? Darauf wollte ich hinweisen. Wenn ich auf massives Tierleid aufmerksam machen kann, nehme ich es in Kauf, dass jemand sich betroffen fühlt. Im Vergleich zum Massenelend der Tiere hat das weniger Gewicht.
Dann sagen die Leute halt einfach: «Kessler mag Tiere mehr als Menschen.»
Dann sollen sie das sagen. Wenn ich gefragt werde, kann ich es ja erklären. Einer schrieb mir damals: «Damit machen Sie sich sicher nicht beliebt.» Ich schrieb zurück: «Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich mich beliebt machen will?»
Aber Sie wollen Ihrem Anliegen auch nicht schaden.
Ich lebe nach meinen Überzeugungen. Was mehr oder weniger nützt, darüber kann man endlos diskutieren. Es gibt genug Tierschutzorganisationen, die es diplomatisch machen. Dafür braucht es mich nicht.
Sie reden oft von «Hühner-KZ». Der grüne Nationalrat Jonas Fricker verglich einen Schweinetransport mit einem Zug nach Auschwitz und musste zurücktreten …
… er musste nicht, tat es aber – leider.
Der Punkt ist: Sie sagen selbst, es gebe Unterschiede zwischen Menschen und Tieren.
Über den Mensch-Tier-Vergleich finden Sie auf unserer Vereinswebsite einen ausführlichen Beitrag, in dem ich darlege, weshalb ich diesen Vergleich mache und an ihm festhalte.
Eine Tierfabrik ist also das Gleiche wie ein KZ?
Das ist unzulässig vereinfacht!
Das ist nur eine Frage.
Ja, schon recht. Es ist kein einfaches Thema, und deshalb darf man sich nicht mit Schlagworten begnügen.
Aber «Hühner-KZ» ist ja gerade ein solches Schlagwort.
Gut, aber ich begnüge mich ja nicht damit. Lassen Sie es mich kurz erklären. Dass der Mensch lesen und schreiben kann und ein Tier nicht, ist keine Rechtfertigung, wenn es um etwas geht, was beide teilen: Leiden, Schmerzen, Trauer, Glück, Liebe, Freundschaft, Trennung und Tod – existenzielle Erfahrungen, von denen man nicht sagen kann, sie zählten beim Menschen mehr. Diese anthropozentrische Vorstellung lehne ich ab. Das ist aber keine Gleichstellung.
Das ist doch ebenso anthropozentrisch gedacht. Wir haben Begriffe entwickelt, um unsere Gefühle zu beschreiben, und Sie legen diese einfach auf die Tiere um.
Der grosse Verhaltensforscher Konrad Lorenz sagte sinngemäss: Wer ein höheres Säugetier kenne und nicht sehe, dass es Freud und Leid ähnlich empfinde wie ein Mensch, gehöre in die Psychiatrie. Wenn man von den Säugetieren die Evolution hinabgeht, wird es natürlich schwieriger. Es gibt schon einen Unterschied zwischen einer Kuh und einem Insekt. Aber jeder, der sich mit Tieren beschäftigt … Hatten Sie einmal einen Hund?
Ja.
Wenn man auf Tiere, also auf Säugetiere oder auch Vögel, eingeht und sie ernst nimmt, spürt man, dass es Lebewesen sind mit ähnlichen fundamentalen Empfindungen und elementaren Bedürfnissen wie Menschen, jedenfalls ähnlich wie Kleinkinder oder geistig behinderte Menschen. Darum verdienen diese Tiere einen ähnlichen Schutz vor Missbrauch.
Aber wenn Sie von «Hühner-KZ» reden, meinen viele Leute, Sie wollen nicht die Tiere hinauf-, sondern eine bestimmte Gruppe von Menschen herabsetzen, nämlich die Juden.
Das ist fahrlässig oder bösartig falsch verstanden, ein Ablenkungsmanöver karnivorer Menschen, die ihr schlechtes Gewissen verdrängen wollen. Und wieso immer nur die Juden? Es starben auch andere Menschen in den Konzentrationslagern.
Sie könnten ja sagen: «Hühner-Gulag». Das machen Sie aber nicht.
Für uns sind die Taten der Nazis das Massenverbrechen, das zeitlich und geografisch am nächsten liegt. Nur darum rede ich von Hühner-KZ und nicht von Tier-Gulag. Niemand muss das gut finden. Aber der Begriff ist nicht rassistisch oder antisemitisch. Diesen Vorwurf akzeptiere ich nicht, und die Gerichte geben mir recht.
Eben haben Sie einen Prozess verloren.
Ein Fehlurteil. Auf unserer Vereinswebsite finden Sie dazu eine ausführliche Erklärung.
Aber warum riskieren Sie überhaupt Gerichtsprozesse? Ihr Anliegen ist doch nicht der Zweite Weltkrieg, sondern der Tierschutz.
Gerichtsprozesse führe ich vor allem, um den Verein zu schützen. Aber lassen Sie es mich umkehren. Wenn es um Tierschutz geht, finden das zunächst alle gut. Wenn es aber konkret wird, kommen die meisten sofort mit Vorbehalten. Sie beide sind ein gutes Bespiel dafür: Das sind Lederschuhe, die Sie tragen, richtig?
Ja.
Wissen Sie, wie heute Leder hergestellt wird?
Nein.
Nicht vom Bauern nebenan, sondern weit weg, unter grauenhaften Bedingungen. Sie finden Videos im Internet, aber ich warne Sie: Das ist für seelisch gesunde Menschen unerträglich. Der Markt wird mit diesem Leder geflutet. Und Sie unterstützen das!
Wieso zeigen Sie uns denn nicht diese Videos und Fotos – und verzichten auf die KZ-Vergleiche. Das ist Ihrer Sache, dem Tierwohl, doch viel dienlicher.
Das ist ja alles auf unserer Website und in unserer Zeitschrift ausführlich dokumentiert, aber damit erreichen wir Sie offensichtlich nicht – und viele andere eben auch nicht. Aber wenn ich von Tier-KZ rede, hören mir die Menschen zu. Nur deshalb machen Sie ja jetzt ein Interview mit mir.
Es sind ja nicht nur die KZ-Vergleiche. Als in den Neunzigern diskutiert wurde, das Schächtverbot aufzuheben, nannten Sie die Pendlerzeitung Metropol ein «verlogenes Judenblatt», um jetzt nur ein Beispiel zu nennen. Haben Sie nicht eine Obsession mit den Juden? Die Muslime schächten ja auch, ohne von Ihnen kritisiert zu werden.
Das muss man aus der Zeit heraus verstehen. Jüdische Organisationen zogen damals alle Register, um zu begründen, dass das Schächtverbot antisemitisch motiviert sei. Von den Muslimen wurde ich nicht bekämpft, im Gegenteil: Das Islamische Zentrum Bern unterstützte mich öffentlich. Heute würde ich einiges anders formulieren, aber damals war es nötig, Klartext zu reden. Sie finden alle meine Aussagen auf unsere Vereinswebsite. Das sind historisch wertvolle Dokumente, und im Kontext gelesen, wird schnell klar, dass es mir nicht um die Juden im Allgemeinen ging, sondern um das Schächten. Mit einem kurzen Zitat können Sie fast alles verdrehen. Ich lasse mich jedenfalls nicht erpressen und wehre mich gegen diese Angststarre, sobald das Wort Jude fällt.
Wir verfallen nicht in Angststarre. Wir finden es einfach geschmacklos, wenn man die eine Minderheit, die in der Geschichte immer unterdrückt und verfolgt wurde, braucht – oder eben missbraucht –, um sich für Tiere einzusetzen.
Sie dürfen das geschmacklos finden, aber ich missbrauche die Juden nicht. Viele tierliebende Juden und prominente jüdische KZ-Überlebende finden solche KZ-Vergleiche richtig und wichtig und benutzen sie selbst, um auf das immense Leid in der Massentierhaltung aufmerksam zu machen.
Das beweist noch nichts. Es gibt ja auch Juden, die es andersrum sehen. Wir fragen uns einfach, was Sie damit zu erreichen glauben.
Ich finde wirklich, was heute mit den Nutztieren geschieht, ist ein Holocaust. Die Lebensphilosophie des Massenmenschen lautet: Wenn es alle tun, muss es ja richtig sein. Das ermöglichte immer wieder unfassbare Verbrechen. Über das Nazi-Pack zu schimpfen ist einfach. Es hat keine Konsequenzen für das eigene Leben. Aber wer das Massenverbrechen an den Tieren ablehnt, muss bei sich etwas ändern. Dafür will ich ein Bewusstsein schaffen.
Sie sagten einmal, Ihr Engagement im Tierschutz habe mit einem Leserbrief gegen das Enthornen von Kühen begonnen. Da schliesst sich ein Kreis. Inzwischen gibt es eine Volksinitiative zu diesem Thema.
Ja. Hm.
Wie? Finden Sie die Initiative nicht gut?
Wir unterstützen sie nicht, bekämpfen sie aber auch nicht. Ich finde es einfach einen Skandal, dass man die Bauern für alles entschädigen muss, was selbstverständlich sein sollte.
Wenn Sie einen Artikel in die Verfassung schreiben könnten: Wie lautete er?
Wenn die Menschheit die Höhlenbewohnerkultur hinter sich lassen und kultiviert und friedlich werden will, muss sie auf Gewalt gegen Tiere verzichten. Das ist meine Vision.
Gewalt gegen Tiere und Gewalt gegen Menschen gehören zusammen?
Natürlich! Die Kinder werden mit Gewalt gegen Tiere gross. Ich habe einmal gefilmt, wie ein Kind mit einem Knebel einen Fisch töten wollte und ihn mit diesen Schlägen nur quälte, und der Vater stand mit der Fischerrute stolz daneben und feuerte sein Kind an. Wer die Gewaltspirale auf der Welt durchbrechen will, muss hier ansetzen: im Alltag, bei der Gewalt gegen die Schwächsten.
Das ist Ihre Botschaft: Weltfrieden durch Veganismus?
Es ist meine Vision. Der Veganismus hätte auch andere positive Effekte: Man könnte den Welthunger wirksam bekämpfen, weil in den armen Ländern nicht mehr Futter für Milliarden von Nutztieren verschwendet würde. Und bei uns im Mittelland liessen sich Naturparks errichten, weil pflanzliche Nahrungsmittel einen Bruchteil der Ackerfläche benötigen – und die Bauern könnten diese Parks unterhalten. Es wäre eine schönere, bessere Welt.
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