Mamablog: Langzeitfotoprojekt «Wenn ich meine Kleinkinder nackt zeige, wird das skandalisiert»
Die Fotografin Caroline Minjolle hat jahrelang das Aufwachsen ihrer Söhne dokumentiert. Wir haben mit ihr über ihre Arbeit gesprochen – und zeigen Bilder aus dem Buch.

Caroline Minjolle ist ausgebildete Balletttänzerin. Fotografin. Leitet engagiert und einfühlsam Foto-Workshops an Schulen. Ist Mutter. Zwillingsschwester. Künstlerin. Feministin. Soeben ist ihr Buch «Rendez-vous» erschienen, in dem sie mit Schwarz-Weiss-Fotografien das Aufwachsen ihrer Söhne dokumentiert.
Minjolle ist hochsensibel, ebenso ihre Zwillingsschwester. Seit 50 Jahren arbeitet sie am Fotoprojekt «Monozygotes», womit sie die tiefe Verbundenheit der beiden ausdrückt. Damit nicht genug: Sie ist Teil des Fotografinnen-Kollektivs «Wir/Nous» und eine der 50 Fotografinnen, die sich für das aktuelle Projekt «50-50-50» (50 Fotografinnen haben 50 Frauen 50 Jahre nach der Einführung des Schweizer Frauenstimmrechts porträtiert») engagieren.

Wer ist diese Mutter und beeindruckende Frau, die so viele Projekte in die Welt trägt, grosses Engagement zeigt und damit auch mich darin bestärkt, nicht trotz, sondern mit den Kindern und der Familie kreativ zu sein? Ich habe mit Caroline Minjolle via Zoom über Familie, Gleichstellung in der Kunstwelt und Feminismus gesprochen:
Sie widmen sich gleich in zwei Projekten Personen aus Ihrer Familie. Im Buch «Rendez-vous» Ihren Söhnen. In ihrem Langzeitprojekt «Monozygotes» Ihrer Schwester. Warum?
Die Familie ist in meinem Leben sehr zentral. Man könnte auch sagen, dass mich hauptsächlich zwei Dinge durch mein Leben begleiten: Kreativität und Familie.
Wie sind diese beiden Projekte entstanden?
Für die Foto-Dokumentation mit meinen Söhnen habe ich mich ganz bewusst entschieden. Begonnen hat es, als ich das erste Mal schwanger war. Ich wollte die Veränderung meines Körpers sofort festhalten. Ich funktioniere so. Wenn etwas in meinem Leben passiert, überlege ich immer umgehend: «Wie kann ich das visuell umsetzen?» Nach der Geburt meiner Söhne habe ich sie immer einmal im Monat fotografiert. Wir machten also ein «Rendez-vous» aus, so nannte ich dann auch das Projekt. Bei meiner Schwester war das Projekt weniger bewusst.
Sondern?
Wir haben uns einfach immer gegenseitig fotografiert, wenn wir uns sahen. Auch sie fotografierte schon immer gerne. Das hat uns verbunden. Irgendwann druckten wir eine kleine Auflage eines Buches mit den über die Jahre entstanden Fotos, auf denen wir immer zu zweit zu sehen waren. Wir verschenkten die Bücher in der Familie und merkten plötzlich: Hey, das ist doch ein Projekt, das ist ein Buch, das ist etwas sehr Wertvolles.
Sie und ihre Schwester sind hochsensibel. Wie wirkt sich ihre Hochsensibliät auf ihre Arbeit aus?
Ich spüre die Hochsensibiliät viel weniger im Beruf als im Alltag. Im Beruf habe ich gelernt, mich zu «verpanzern». Schon als Ballettänzerin.
Warum?
Als Tänzerin erlebt man harte und auch verletzende Kritik. Da musste ich eine Mauer aufbauen. In meinem Alltag, zum Beispiel in den öffentlichen Verkehrsmitteln, kommen mir die Menschen jedoch schnell zu nahe, dann spüre ich meine Hochsensibilität. Ich sehe viel zu viel, sauge alle Eindrücke, alle Gespräche um mich herum auf. Zum Beispiel, wie Eltern mit ihren Kindern umgehen. Ich kann mich dann kaum abgrenzen.
Eine Fotografie ist eine Art «Freeze», ein Festhalten eines Moments. Gibt Ihnen das Ruhe in ihrer Hochsensibilität?
Bestimmt. Es ist für mich aber auch eine Möglichkeit, die Zeit aufzuhalten. Als die Kinder klein waren, habe ich die ganze Zeit fotografiert. Ich wollte diese Momente nicht verlieren.
War es nicht schwierig, als Künstlerin das Leben mit Kindern und einer Familie zu vereinbaren?
Doch, sehr. Das bildet auch stark den Hintergrund von «Rendez-vous». Ich wollte eigentlich irgendwann als Fotoreporterin oder Reisefotografin arbeiten. Als ich Mutter wurde, musste ich das aber anders lösen. Ich verband also meine Zeit mit den Kindern mit meiner Arbeit. So wurde ich in einem kleinen Kreis kreativ.

Wie erlebten Sie die Zusammenarbeit mit Ihren Söhnen?
Die fixen Termine waren meistens etwas sehr Schönes. Und meine Söhne bestimmten von Anfang an mit. Ich habe Verkleidungen oder Accessoires vorgeschlagen und sie waren bereit, sich damit zu inszenieren. Es war sehr spielerisch. Irgendwann, als die Buben älter wurden, gab es auch Momente, wo sie gerade keine Lust darauf hatten, vor allem in der Pubertät. In dieser Lebensphase sahen sie sich nicht immer gerne auf den Bildern.
Für mich sind genau diese Fotos die stärksten. Die Sensibilität und Verletzlichkeit, die die beiden ausstrahlen, haben mich sehr berührt.
Ja, das sagen viele. Doch in diesem Alter ist die eigene Wahrnehmung oft eine andere. Das galt es zu akzeptieren.

Und wie lösten Sie das?
Nach ihrem 18. Geburtstag haben meine Söhne entschieden, dass das Projekt «Rendez-vous» in dieser Form beendet ist. Nun findet «Rendez-Vous» nur noch drei bis vier Mal im Jahr statt und wir schauen, wohin die Reise geht.
Wie kamen Ihre Arbeiten mit den Söhnen denn in der Fotografie-Szene an?
Ich hatte sehr positive Reaktionen. Aber klar, das Thema Kind und Mutter ist noch nicht wirklich anerkannt. Wenn du als Fotografin mit deinem eigenen Frauenkörper arbeitest, vor allem auch mit Nacktheit, kommst du sicherlich besser an, als wenn du mit deinen Kindern arbeitest.
Nacktheit kommt aber auch in «Rendez-vous» vor.
Ich wurde immer und immer wieder darauf angesprochen, ja. Die vielen Fragen haben mich erstaunt. Ist es denn wirklich ein so grosses Thema, dass ich als Mutter nackt bin? Es geht doch einfach um einen Körper, der schwanger ist. Die Veränderung des Körpers ist beeindruckend, das wollte ich visuell umsetzen. Im Tanz ist der Körper ein Ausdrucksmittel, ein Werkzeug. So sah ich das auch für die Fotografien.
Eigentlich begegnen wir Nacktheit heute ja fast überall…
Nicht nur in der Werbung, auf Plakaten oder im TV ist Nacktheit überpräsent. Auch die Kunstgeschichte ist eine einzige Körperorgie. Aber wenn ich meine Kleinkinder nackt zeige oder mich als Mutter, dann wird das skandalisiert.
Was sagen Sie dazu, dass die Bilder auch missbraucht werden könnten?
Das ist doch ähnlich, wie wenn wir den Frauen sagen, sie sollen keinen Minirock tragen, weil sie sonst selbst schuld sind, wenn ihnen ein Mann nachstellt. Wenn jemand erregt ist von meiner Dokumentarfotografie, von diesen Bildern ohne sexuellen Hintergrund, haben diese Menschen ein Problem, nicht ich oder meine Kinder. Ich kann nicht alles kontrollieren, was sich im Kopf von anderen Menschen abspielt.
Ist es denn nicht problematisch, wenn Eltern Fotos von Kindern in die Öffentlichkeit stellen?
Ich wähle alle Bilder immer sehr genau aus, sie stehen alle in einem Kontext. Ich finde, es gibt Bilder und Bilder. Das Buch hätte ich niemals publiziert ohne das Einverständnis meiner Söhne!

Wie ist es denn als Mutter in der Fotografie? Herrscht da Gleichstellung mit den Vätern?
Bei der Verteilung von Aufträgen wirst du als Mutter sicherlich weniger priorisiert. Viele denken, Fotografie sei ein Hobby der Mütter und der Ehemann verdiene das Geld. Ich bin geschieden und darauf angewiesen, mein eigenes Geld zu verdienen.
Spüren Sie keine Frauensolidarität?
Ich bin seit dem Frauenstreiktag 2019 im Kollektiv Frauenstreikfotografinnen – in diesem Kollektiv erfahre ich sehr viel Empowerment.
Waren Sie immer Feministin?
Ja, jedoch nicht so bewusst wie heute. Ich habe immer unabhängig und selbstbestimmt gelebt.
Und hat sich das nicht verändert mit dem Mutterwerden?
Nein, ich hatte das Glück, dass der Vater meiner Söhne schon vor 25 Jahren sehr engagiert zu seinen Kindern geschaut hat. Wir machten alles fifty-fifty.
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