Wenn ein Staatsanwalt rot sieht
Der Fall Vincenz oder Die Verluderung des Rechtsstaats.

Freiheitsentzug bei einem Unschuldigen ist eine drakonische Massnahme. Die schärfste Waffe, über die ein Staatsanwalt bei der Untersuchung einer möglichen Straftat verfügt. Untersuchungshaft darf nur beim Verdacht auf schwere Straftaten und bei mindestens einem der folgenden drei Gründe verhängt werden: zur Abwendung von Flucht-, Wiederholungs- oder Verdunkelungsgefahr. Zudem darf U-Haft nur dann verhängt werden, wenn keine mildere Massnahme, also beispielsweise ein Kontaktverbot, den gleichen Zweck erfüllen würde.
Der tief gefallene ehemalige Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und sein langjähriger Geschäftspartner und Freund Beat Stocker sitzen bereits seit über einem Monat in U-Haft. Sie stehen unter dem Verdacht der ungetreuen Geschäftsbesorgung, was mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden kann.
Allerdings: Die ihnen vorgeworfenen möglichen Straftaten liegen viele Jahre zurück, beide sind nicht mehr in ihren damaligen Funktionen tätig. Daher ist eine Wiederholungsgefahr wohl ausgeschlossen. Beide wissen seit spätestens Ende letztes Jahr um das Vorliegen einer Strafanzeige, also hatten sie sicherlich genügend Zeit, sich abzusprechen und allfällig belastende Dokumente zu entsorgen. Daher ist eine Verdunklungsgefahr ebenfalls ausgeschlossen. Genauso, dass sich Vincenz oder Stocker der Strafverfolgung durch Flucht in einen ausländischen Staat, der kein Auslieferungsabkommen mit der Schweiz hat, entziehen wollten.
Erschwerend kommt hinzu, dass durch ungetreue Geschäftsbesorgung demjenigen ein Schaden entstehen muss, dessen Geschäft besorgt wird. Konkret müsste nachgewiesen werden, dass durch zwei Firmenkäufe, an denen Vincenz und Stocker beteiligt waren, Raiffeisen ein finanzieller Verlust zugefügt wurde. Indem beispielsweise bewusst ein zu hoher Preis bezahlt wurde. Dafür gibt es zurzeit aber keinen Beleg.
Dass Vincenz bei den Kaufverhandlungen sozusagen gleichzeitig an beiden Seiten des Verhandlungstischs sass, einmal als Raiffeisen-Aufkäufer, einmal als Mitbesitzer der zu kaufenden Firma, ist übel, anrüchig, unanständig und sowohl für ihn wie für Raiffeisen reputationsschädigend. Aber nicht strafbar.
Beantragt wurde die U-Haft durch den Zürcher Staatsanwalt Marc Jean-Richard-dit-Bressel. Er ist Leiter der Abteilung A bei der Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsdelikte. Der Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch singt sein Loblied, es handle sich um «eine Koryphäe des Wirtschaftsstrafrechts». Andere Anwälte, die nicht namentlich genannt sein wollen, finden weniger glanzvolle Worte: «Dünnbrettbohrer», «inkompetent», «Schaumschläger» sind noch die freundlicheren Bezeichnungen.
Sie korrespondieren auch besser mit dem Leistungsausweis von Jean-Richard. Der ist ein Desaster. Im Fall des Bankiers Thomas Matter wurde er wegen Befangenheit abberufen, das Verfahren wurde eingestellt. Seine Anklage gegen den Financier Martin Ebner wurde vom zuständigen Gericht vom Tisch gewischt, hier habe nicht einmal Anklage erhoben werden dürfen, wurde der Staatsanwalt gerüffelt. Bedeutende von ihm zur Verurteilung geführte Strafverfahren sind nicht bekannt.
Da liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei dieser U-Haft in Wirklichkeit um eine Beugehaft handelt. Also um den Versuch, Vincenz oder Stocker durch den Aufenthalt in einer beengten Gefängniszelle mit täglich lediglich einer Stunde Hofgang weichzukochen und zu einem Geständnis zu drängen. In beliebig langen Einvernahmen kann der Staatsanwalt mit allen Tricks arbeiten, also andeuten, dass der Mitgefangene bereits am Auspacken sei. Oder dass die U-Haft sofort beendet werden und das zu erwartende Strafmass gnädig ausfallen kann, wenn eingestanden wird. «Nur hier unterschreiben, und Sie marschieren sofort als freier Mann durchs Gefängnistor», welche Versuchung.
Offensichtlich wurden bislang Haftentlassungsgesuche abgelehnt. Zur weiteren Dauer der U-Haft teilt die Zürcher Staatsanwaltschaft auf Anfrage lediglich mit: «In der Regel wird die Untersuchungshaft von den Zwangsmassnahmengerichten für drei Monate angeordnet.»
Journalismus im Konjunktiv
Ein Fundament unserer Rechtsordnung ist die Unschuldsvermutung. Wer eines Vergehens oder Verbrechens beschuldigt wird, muss nicht seine Unschuld beweisen, sondern ihm muss in einem ordentlichen Gerichtsverfahren rechtsgültig und über jeden vernünftigen Zweifel erhaben seine Schuld nachgewiesen werden. Diese Unschuldsvermutung wird von den Medien je länger, desto mehr mit den Füssen getreten. Es werden wilde Vermutungen angestellt, dunkle Behauptungen im Konjunktiv verbreitet und als juristisches Feigenblatt der Satz angefügt, dass im Übrigen die Unschuldsvermutung gelte.
Natürlich muss über möglicherweise lusche Geschäfte von Vincenz und seinem Compagnon berichtet werden, das gehört zum Fundament unserer freien Gesellschaft. Wenn sich aber Jahre später herausstellen sollte, dass sich Vincenz und Stocker strafrechtlich nichts haben zu Schulden kommen lassen, ist ihre Reputation und ihr öffentliches Ansehen dennoch unrettbar ramponiert, zerstört. Vielleicht ein hinzunehmender Kollateralschaden, damit die Medien ihrer Pflicht, auf Ungereimtes, Unanständiges, Skandalöses, möglicherweise Strafbares hinzuweisen, nachgehen können.
Dass sich ein erfolgloser Staatsanwalt mit seinen Möglichkeiten daran beteiligt, dass ein Richter seinem Antrag auf U-Haft – angesichts dieser mehr als dünnen Ausgangslage – stattgegeben hat, zeugt aber von einer Verluderung des Rechtsstaats. Es ist ein klarer Missbrauch der Machtmittel, über die ein Staatsanwalt verfügt. Besonders stossend dabei ist, dass er keinerlei Sanktionen zu befürchten hat. Und um sein öffentliches Image muss er sich auch keine Sorgen machen. Davon ist sein Gehalt und seine Karriere nicht abhängig. Leider.
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