Landwirtschaft an Fliessgewässern Wenige Bauern profitieren – auf Kosten des Hochwasserschutzes
Bürgerliche Politiker wollen Landwirten helfen, an Fliessgewässern wertvolles Land zu behalten. Ein unveröffentlichter Bericht des Bundes zeigt die Folgen auf.

Die beiden Agrarinitiativen haben sie an der Urne gebodigt. Nun stehen die Bauern vor einem weiteren Triumph. Streitpunkt sind die sogenannten Gewässerräume. Das sind jene Zonen links und rechts von Fliessgewässern, welche die Wasserqualität sowie den Lebensraum für Tiere und Pflanzen sichern sollen, aber auch den Hochwasserschutz. Wie wichtig gerade Letzteres ist, hat dieser Sommer eindrücklich gezeigt.
Bauern klagen indes, diese Zonen entzögen ihnen einen wichtigen Teil jener Fläche, auf denen sie Futter für die Tiere produzierten, etwa Körnermais. Der Grund: Intensive Landwirtschaft ist hier verboten. Und damit der Einsatz von Pestiziden und Düngemitteln. Erlaubt ist nur extensive Landwirtschaft, was weniger Erträge, dafür mehr Artenvielfalt bringt.
Bürgerliche fordern mehr Spielraum
Eine bürgerliche Allianz fordert deshalb mehr Spielraum. Verliert ein Bauer bei der Ausscheidung dieser Zonen einen «übermässigen Anteil» seiner Fläche für den Futteranbau, soll es möglich sein, die Gewässerräume zu verkleinern. Der Nationalrat entscheidet in zwei Wochen darüber. Seine vorberatende Kommission unterstützt eine entsprechende Motion von SVP-Ständerat Jakob Stark. Die kleine Kammer hat das Anliegen bereits im Frühjahr gutgeheissen.
Welche Folgen die Umsetzung des Plans hätte, war bis jetzt nicht bekannt. Nun aber zeigt ein unveröffentlichter Bericht des Bundesamts für Umwelt die Konsequenzen auf. Untersucht haben die Fachleute die Situation in den Kantonen Glarus, Graubünden und Aargau. Das erste Fazit: Die Bauern könnten in der Summe wenig Land dazugewinnen. In Graubünden etwa umfasst die Fläche für die sogenannt ertragreiche Futtermittelproduktion heute 36’000 Hektaren; mit der neuen Regel würde sie um rund 250 Hektaren wachsen (0,7 Prozent). Entsprechend würde die Fläche für den Gewässerraum schrumpfen. Da dieser mit 333 Hektaren aber ungleich kleiner ist, schenkt der Verlust prozentual viel mehr ein (75 Prozent). Für Glarus und den Aargau ergibt sich ein ähnliches Bild.
Nur wenige Bauernbetriebe könnten vom Landgewinn profitieren.
Das zweite Fazit: Nur wenige Bauernbetriebe könnten vom Landgewinn profitieren. Im Kanton Graubünden wären es 3 von 725, in Glarus 10 von 252, im Aargau 21 von 908. Für ihre Analyse gingen die Fachleute von konservativen Annahmen aus. Die Futtermittelfläche, welche die Landwirtschaft hinzugewänne, sowie die Zahl der Betriebe, die davon profitieren, «wurden somit eher über- als unterschätzt», heisst es im Bericht, der dieser Zeitung vorliegt.
Die Untersuchung bestätigt das rot-grüne Lager in seiner Befürchtung, wonach die neue Regel den Hochwasser- und Naturschutz weit stärker schwächen, als sie der Landwirtschaft insgesamt nützen würde. SP, Grüne und Grünliberale hoffen, dass der Nationalrat den Vorstoss deshalb ablehnen wird. Die vorberatende Kommission hat die Motion hauchdünn gutgeheissen, mit 13 zu 12 Stimmen. Bürgerliche Abweichler könnten also die Waage wieder zum Kippen bringen.
Die Abstimmung im Nationalrat markiert ein weiteres Kapitel einer Geschichte, die vor über zehn Jahren begonnen hat. Die Gewässerräume sind Teil eines historischen Kompromisses, der 2010 zum Rückzug der Volksinitiative «Lebendiges Wasser» geführt hatte. Das Volksbegehren verlangte die Revitalisierung aller verbauten Flüsse in der Schweiz. Als Gegenprojekt schlug das Parlament vor, nur ein Viertel der Fliessgewässer naturnah wiederherzustellen, also etwa 4000 Kilometer, diese Abschnitte aber zu vernetzen und neue Gewässerräume auszuscheiden. Auch erhöhte das Parlament eigens das Landwirtschaftsbudget um 20 Millionen Franken pro Jahr. Damit sollten die Bauern fortan dafür entschädigt werden, dass sie in den Zonen der Gewässerräume nur extensive Landwirtschaft betreiben dürfen.
Historischer Kompromiss «ohne Bedeutung»
Offen bleibt vorderhand, ob der Bericht das Potenzial hat, bürgerliche Parlamentarier umzustimmen. Alle Versuche sind bislang gescheitert. Im Frühjahr hatte Umweltministerin Simonetta Sommaruga vergeblich an die Ständeräte appelliert, den Vorstoss abzulehnen. Auch haben sich die Bürgerlichen bislang nicht davon beeindrucken lassen, dass die Kantone die neue Regel ablehnen. Widerstand kommt dabei nicht nur von den kantonalen Umweltdirektoren, sondern auch von den kantonalen Landwirtschaftsdirektoren. Bei der Ausscheidung der Gewässerräume bestehe heute schon genügend Spielraum, argumentieren die Kantone.
Dass es diesen Spielraum gibt, hat einen Grund: Das Parlament hat den historischen Kompromiss schon vor einigen Jahren zu schleifen begonnen. So sehen es jedenfalls Umweltschützer. Diese Lesart, entgegnen bürgerliche Parlamentarier, sei falsch. Es gehe – auch jetzt wieder – einzig darum, schwierige Situationen zu bereinigen, speziell bei wildbachartigen Flüssen wie der Linth oder der Emme. Für Biodiversitätsflächen, die verlustig gingen, werde andernorts Ersatz geschaffen.
Im rot-grünen Lager traut man diesen Worten nicht. Nationalrätin Martina Munz (SP) etwa zeigt sich «erschüttert»: Der historische Kompromiss habe «keine Bedeutung mehr». «Damit steht das Vertrauen der parlamentarischen Institutionen auf dem Spiel.» Das Insektensterben und die Biodiversitätskrise seien Tatsache. Trotzdem gelinge es nicht, längst beschlossene und von den Kantonen unterstützte Massnahmen durchzusetzen.
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