Was 140 Zeichen anrichten können
Der Zürcher SVP-Politiker Alexander Müller hat wegen eines Tweets alles verloren. Er ist nicht der Erste, der über Twitter stolpert. Social Media haben ein destruktives Potenzial. Einige Beispiele.

Die 74 Zeichen kamen Alexander Müller teuer zu stehen. «Vielleicht brauchen wir wieder eine Kristallnacht ... diesmal für Moscheen»: Mit diesem Tweet verlor der Zürcher SVP-Lokalpolitiker und Kreditanalyst seinen Job, einem Parteiausschluss kam er gestern Abend zuvor. Die Zürcher Staatsanwaltschaft hat ein Strafverfahren wegen Verstosses gegen die Rassismus-Strafnorm eröffnet. Gestern Morgen wurde bei einer Hausdurchsuchung sein Computer beschlagnahmt. Den Schulpflegeposten am Zürichberg hat Müller derzeit noch, doch seine Glaubwürdigkeit ist dahin.
Müller ist nicht der Erste, dessen Leben von einem Tweet auf den Kopf gestellt wird. Social Media wie Facebook oder Twitter sind zwar wunderbare Werkzeuge, um zu Informationen zu kommen und Ansichten zu verbreiten. Doch sie heben die Grenzen der freien Meinungsäusserung nicht auf. Und wo letztere nicht garantiert ist, kann Twitter zur Falle werden.
Das Beispiel Première Dame
Prominentes Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit ist Valérie Trierweiler, die Lebenspartnerin des französischen Präsidenten François Hollande. Die Première Dame setzte sich mit einem Tweet über Hollandes Ex Ségolène Royal in die Nesseln.
Trierweiler hatte auf Twitter bei den Parlamentswahlen einen Abweichler der Sozialisten gegen die frühere Lebensgefährtin Hollandes unterstützt. Es hagelte Kritik von allen Seiten. Die Première Dame, von Beruf Journalistin, wurde zur Zurückhaltung aufgefordert.
Vergewaltigungsopfer genannt
Strafrechtliche Konsequenzen wie in Alexander Müllers Fall hatte dieser Tweet jedoch nicht. Ganz anders erging es da zwölf Twitterern, die Anfang Mai in Grossbritannien im Zusammenhang mit einem Vergewaltigungsfall vorübergehend verhaftet wurden. Sie hatten das Opfer des Fussballspielers und verurteilten Vergewaltigers Ched Evans in Tweets beim Namen genannt und damit gegen das britische Opferschutzgesetz verstossen.
Gleich als Terrorist eingestuft wurde ein britischer Tourist bei seiner Einreise in die USA. Vor dem Abflug hatte er an eine seiner Follower getweetet: «Frei diese Woche für einen Tratsch, bevor ich gehe und Amerika zerstöre?»
Trotz Erklärungen, «zerstören» (destroy) sei britischer Slang für «tüchtig feiern», verstanden die Beamten am Flughafen in L.A. keinen Spass und sperrten den Briten und seine Begleitung nach stundenlanger Befragung für weitere 12 Stunden ein und schafften die beiden nach Paris aus.
Segen und Fluch
Doch nicht nur bei unbedarften Äusserungen oder falsch verstandener Ironie – auch im politischen Bereich ist Twitter Segen und Fluch zugleich. Und dies nicht erst seit gestern.
Nach dem G-20-Gipfel 2009 in Pittsburgh wurde ein US-Aktivist verhaftet, weil er offenbar die Operationen der Polizei während des Gipfels abgehört und unter anderem via Twitter an Demonstranten weitergeleitet hatte. Dadurch kam ihm die Justiz auf die Schliche.
Der Pianist und die Religion
Ein prominentes Opfer seiner Tweets ist der türkische Starpianist Fazil Say. «Der Muezzin trägt seinen Gebetsruf zum Abendgebet in 22 Sekunden vor», schrieb Say. «Warum die Eile? Eine Geliebte? Der Raki-Tisch?»
Ein weiterer Tweet, den Say an seine Follower weiterleitete, zitierte ein persisches Gedicht: «Du sagst, durch die Bäche wird Wein fliessen, ist das Paradies etwa eine Schänke? Ich werde jedem Gläubigen zwei Jungfrauen geben, sagst du, ist das Paradies etwa ein Freudenhaus?» Say muss sich für die Tweets nun vor Gericht verantworten – wegen «Beleidigung religiöser Werte».
Polit-Twitterer leben gefährlich
Der saudische Blogger Hamza Kashgari muss gar um sein Leben fürchten. In drei Tweets hatte er sich in einem fiktiven Dialog mit dem Propheten Mohammed kritisch über islamische Bräuche geäussert. Kashgari muss sich nun wegen Blasphemie verantworten, Religionsfanatiker fordern die Todesstrafe.
In Bahrain wurde der bekannte Menschenrechtler Nabil Ragab Anfang Mai zum wiederholten Male festgenommen, weil er in einem Tweet die Sunniten des Landes verunglimpft haben soll. Gegen ihn laufen mehrere Verfahren, unter anderem wegen eines Tweets, der die – ebenfalls sunnitische – Königsfamilie beleidigt haben soll. Ragab gehört zu den Führungsfiguren des seit Anfang 2011 dauernden und immer wieder brutal niedergeschlagenen Aufstandes in dem Land am Persischen Golf. Auch bei den in den letzten Wochen aufkeimenden Protesten im Sudan wurden vermehrt Aktivisten verhaftet, die Twitter nutzten.
Twitter hat also Potenzial – im positiven wie negativen Sinn. In den meisten Fällen hilft die Devise: erst nachdenken, dann posten. Für jene, die negative Konsequenzen für ihre Sache bewusst in Kauf nehmen, bleibt noch ein Trostpflaster. Immerhin können sie ihre Verhaftung live über Twitter verbreiten, wie dies etwa ein Journalist des britischen «Guardian» tat, der an einer Anti-Putin-Kundgebung in Moskau verhaftet wurde.
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