Drohungen gegen FilmbösewichtWarum Wyatt Russell gerade der meistgehasste Mann in Hollywood ist
Dürfen Schauspieler nur noch spielen, was die «Fans» wollen? Die Grenze zwischen Fiktion und Realität ist erschreckend dünn geworden.

Wer sollte das Erbe als Captain America antreten, nachdem der von Chris Evans gespielte Avengers-Anführer in «Avengers: Endgame» Bye-bye gesagt hatte? Diese Frage wurde in der ersten Folge der Marvel-Serie «The Falcon and the Winter Soldier» beantwortet. Es war zunächst nicht der als Captain designierte Falcon (Anthony Mackie) – dem war die Bürde zu schwer –, sondern der grimmig dreinschauende John Walker, gespielt von Wyatt Russell, dem Sohn von Kurt Russell und Goldie Hawn.
Natürlich schien dieser Walker eine ungleich düsterere Figur zu sein, ein Bösewicht im ikonischen Kostüm, wenn man so will, der für Spannungen in der Marvel-Welt sorgte. Alles bestens also? Leider nein. Denn offenbar gibt es «Fans», die nicht akzeptieren, dass der gute Captain America von einem Schurken gekapert wurde – mit drastischen Folgen für den Darsteller.
Dann lieber Farmer werden
Traurige Tatsache ist, dass Wyatt Russell und dessen Familie in jüngster Zeit derart mit Hass und Morddrohungen eingedeckt wurden, dass sich der Schauspieler nicht nur aus den sozialen Medien zurückzog, sondern angeblich darüber nachdachte, seinen Beruf an den Nagel zu hängen, um Farmer zu werden.
Wie in aller Welt konnte es so weit kommen? Und wie ist es möglich, dass Zuschauer zu Tausenden einem so kompletten Realitätsverlust verfallen?
Die Antwort darauf – wenn es denn eine gibt – hat auch mit der Stimmungslage nach der jüngsten Oscarshow zu tun. Auf die überraschendste aller Academy-Entscheidungen – den besten Hauptdarsteller – gab es in den sozialen Medien wütende Reaktionen. Sie stammten von «Fans» des verstorbenen Chadwick Boseman («Ma Rainey’s Black Bottom»), der für sie nicht nur Favorit, sondern klarer Sieger sein sollte. Aber dann gewann Anthony Hopkins («The Father») – sogar für den Preisträger selbst überraschend.
Beide, Boseman wie Hopkins, legen in ihren jeweiligen Filmen eine unbestreitbar herausragende Performance hin. Aber der Tenor der Enttäuschten lautete, dass man diesen Oscars nie und nimmer Hopkins hätte geben dürfen, weil der nicht mal anwesend gewesen sei und weil dessen Film niemand gesehen habe. Mit Verlaub: Solche «Anhänger» braucht niemand, wenn sie nicht akzeptieren können, was nun mal Fakt ist: Zum Filmbusiness gehört das Überraschungsmoment dazu – auf und neben der Leinwand.
Ist einer wie Hannibal Lecter heute noch denkbar?
Aber so, wie die aktuelle Stimmungslage ist, muss man fast schon dankbar sein, dass Anthony Hopkins seine andere Paraderolle, jene des Hannibal Lecter («Silence of the Lambs»), vor dreissig Jahren gespielt hat. Es war eine der unheimlichsten Performances, die deshalb so gut war, weil Hopkins die hässliche Menschenfresser-Fratze unter einer dünnen Zivilisationsschicht aufzeigte.
Ob Hopkins diese Rolle in der aktuell grassierenden Anfeindungskultur nochmals spielen würde? Eine hypothetische Frage, klar. Aber was man festhalten sollte: Wenn sich Schauspieler inzwischen überlegen müssen, ob sie es noch wagen dürfen, einen Schurken zu spielen, dann ist das ein sozialmediales Armutszeugnis der ganz bitteren Art.
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