Warum so viele Nordlichtjäger die Gefahr suchen
Der Tourismus in der Arktis boomt. Und das, obwohl im Notfall jede Rettung extrem schwierig ist. «Es wird mehr Tote geben», sagt ein norwegischer Helfer.

Lust auf Arktis-Surfen? Surfen unterm Nordlicht, Surfen mit Killerwalen, Surfen in der «nördlichsten Surfschule der Welt» (auf den Lofoten). Oder lieber Arktis-Segeln, «Sail and Ski» vielleicht? Vormittags auf dem Katamaran durch eisige Gewässer segeln, nachmittags auf Spitzbergen einen Skihang hinabwedeln, den noch nie ein Mensch betreten hat. Oder demnächst mit einem «Luxus-Polareisbrecher» – Spa, geheizter Aussenpool, französische Küche, Butlerservice – auf «niemals zuvor erforschten Polarregionen»? Direkt zum geografischen Nordpol, wie es der Veranstalter fürs Jahr 2021 verspricht – dann, wenn das Boot Le Commandant Charcot vom Stapel läuft?
Der Klimawandel – hier hat er sein Labor: Die Arktis schmilzt, hier steigen die Temperaturen zwei- bis dreimal so schnell wie im Rest der Welt. Und das schmelzende Eis legt etwas frei, was die Menschen hoch in den Norden treibt. Es locken nun arktische Kabeljauschwärme, es locken einst unzugängliche Ölfelder. Es lockt die vielleicht spannendste Ressource von allen: das grosse Unbekannte.
Der Arktis-Tourismus ist gerade das Ding für alle, die schon alles andere gemacht haben. Die Zahl der Touristen explodiert, in der norwegischen Stadt Tromsø am 69. Breitengrad zählen sie während des Polarwinters mittlerweile 2000 bis 3000 am Tag. Aber die Nordlichtjäger ziehen noch viel weiter hoch Richtung Nordpol. Die Inselgruppe Svalbard, auf Deutsch meist Spitzbergen genannt, ist der letzte Aussenposten der Zivilisation im Polarmeer, dort hat sich die Zahl der Touristen innerhalb eines Jahrzehnts auf knapp 150 000 fast verdoppelt. Es wird auch etwas geboten: Im September hat Spitzbergen jetzt sein eigenes Oktoberfest, in der ersten Februarwoche locken sie mit «Polar-Jazz». Und mit einem Mal segeln hier oben nicht nur die Passagierschiffe der Hurtigruten, die Platz bieten für ein paar Hundert Gäste. Es wagen sich seit neustem auch die ganz Grossen hinauf nach Spitzbergen: die Kreuzfahrtgiganten, die bis zu 7000 Menschen an Bord haben.
Grosses Kopfzerbrechen
«Wir haben heute siebenmal so viele Touristen in dem Bereich, für den wir zuständig sind, wie noch 2011», sagt Bent-Ove Jamtli in der Stadt Bodø. Jamtli, ein ehemaliger Offizier der norwegischen Luftwaffe, ist der Direktor des in Bodø ansässigen Joint Rescue Coordination Centre (JRCC) für den Hohen Norden. Das Zentrum koordiniert die Retter für sämtliche Unfälle, Havarien und Katastrophen auf dem Land und auf dem Ozean von hier bis zum Nordpol. Eine an sich schon Ehrfurcht gebietende Aufgabe, die von Jahr zu Jahr schwieriger wird. Der Trend – mehr Touristen, mehr Fischer, mehr Unbesonnenheit, und all das immer weiter oben im Norden – bereitet Bent-Ove Jamtli und seinen Leuten grosses Kopfzerbrechen. «Wir werden mehr Unfälle haben», sagt er. «Und es wird mehr Tote geben.»
Es ist, als vergässen die Leute, dass sie dort oben noch immer in einer der entlegensten, feindseligsten, gefährlichsten Gegenden der Welt unterwegs sind. Das Wetter ist extrem und ändert sich oft blitzschnell. Dunkelheit, Eis, Schnee und gewaltige Distanzen machen Rettungsaktionen extrem schwierig. Handys, aber auch die konventionellen an Bord eines Schiffs installierten Rettungssysteme funktionieren in den Regionen des Hohen Nordens wegen der fehlenden Satellitenabdeckung nicht mehr. Bis ein Schiff der norwegischen Küstenwache die Inselgruppe Spitzbergen erreicht, können 24 Stunden vergehen. Mehrere Segler, die im letzten Jahr vor Spitzbergen in Seenot gerieten, konnten noch gerettet werden. «Wir haben sie evakuiert, acht Leute», sagt Jamtli. «Das Boot war verloren.»
Angst vor Ölkatastrophen
Vielleicht noch mehr Glück hatte die Besatzung des Fischkutters Northguider, die am 28. Dezember um 1.22 Uhr um Hilfe funkte. Mit ihrem Boot hatte sie sich weit nach Norden gewagt, in die Hinlopenstrasse zwischen Spitzbergen und Nordostland, und war dort auf Grund gelaufen. Helikopter des Gouverneurs von Svalbard versuchten die Rettung in totaler Dunkelheit bei minus 23 Grad, starken Winden und Schneefall. «Den letzten Mann holten wir von Bord, zwei Minuten bevor das Schiff unterging», sagt Birger Ingebrigsten, Chief of Operations bei der Küstenwache.
Arktis-Tourismus ist gerade das Ding für alle, die schon alles andere gemacht haben.
Ebenso heikel: die Bergung der 330 Tonnen Dieselöl, die der havarierte Kutter noch an Bord hatte, mitten in einem bislang unberührten Gebiet, in dem die Robben ihre Jungen auf dem Eis werfen und in das im Frühjahr viele Seevögel zurückkehren. Den Bergungsmannschaften gelang das Kunststück dann im Januar «in einer der komplexesten Bergungsarbeiten, die bisher im Norden durchgeführt wurden», wie die «High North News» schrieben. Das ist die andere grosse Angst der Arktis-Beobachter: eine Ölkatastrophe.
Seit 2016 fördert die norwegische Plattform Goliat Öl, 85 Kilometer nordwestlich der Stadt Hammerfest – es ist die nördlichste Ölplattform der Erde. «Ein Tanker pro Woche fährt von dort ab», sagt JRCC-Direktor Jamtli. Aber es braucht gar keinen Öltanker für eine Ölkatastrophe: Die grössten Kreuzfahrtschiffe haben mehrere Millionen Liter Öl an Bord.
«Aussterbetourismus»
«Wir könnten eine Ölpest gar nicht beseitigen, wenn das Eis kommt. Und wenn das Öl einmal im Eis ist, dann bleibt es dort für immer», sagt der kanadische Arktisforscher Michael Byers von der Universität British Columbia. «Und nun haben die Riesen der Kreuzfahrtgesellschaften wie Crystal oder Costa die Arktis entdeckt. Das macht uns eine Riesenangst.» Der World Wildlife Fund spricht in einem Bericht vom letzten Jahr von «Aussterbetourismus», den die Arktiskreuzfahrer betreiben würden: «Die Menschen eilen dorthin, um die verschwindenden Ökosysteme zu bestaunen, und beschleunigen dabei ihre Zerstörung.»
Bent-Ove Jamtli vom JRCC in Norwegen versteht die Faszination der Menschen für die Arktis, die in ihrer jetzigen Wildheit und Schönheit so nicht mehr lange zu bestaunen sein wird. «Wenn Sie mich fragen würden, ob ich Lust hätte auf eine solche Kreuzfahrt? Ich würde wahrscheinlich Ja sagen.» Gleichzeitig verblüfft ihn das Risiko, das die Reedereien und ihre Gäste einzugehen bereit sind. «Wenn dort oben ein Feuer ausbräche auf einem der Schiffe mit 6000 Passagieren, das wäre eine Katastrophe.»
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch