
Von einem «Versagen des ganzen Strafverfolgungssystems» sprach der vorsitzende Richter am Freitag bei der Urteilsverkündung wegen des Suizids einer Asylbewerberin 2018 im Untersuchungsgefängnis Waaghof. Vier Mitarbeitende wurden vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch Unterlassung und Aussetzung freigesprochen. Sie hatten die Frau nach ihrem Suizidversuch eine Viertelstunde einfach liegen lassen. Wie umfassend und grundlegend das Versagen des Systems ist, wird deutlich, wenn man sich die Geschichte rund um die Verhaftung der 29-Jährigen anschaut.
Am 9. Juni 2018 wurde die Frau in Bern festgenommen. Sie habe gegen das Dublin-Abkommen verstossen und müsse darum ausgeschafft werden, so der Ansatz der Migrationsbehörde.
Kommunikation beinahe unmöglich
Asylsuchende hätten zu diesem Zeitpunkt das Recht auf juristische Unterstützung. Nicht alle Asylsuchenden sind sich dessen bewusst oder werden durch die Behörden darauf hingewiesen. Es ist naheliegend, dass das in diesem Fall auch so ablief. Anders hätte es wohl kaum zu dieser Eskalation kommen können. «Die Kommunikation gestaltete sich insbesondere wegen der Sprachbarriere nicht einfach», heisst es in der Anklageschrift zur Situation im Waaghof. Dass das in Bern grundlegend anders war, darf bezweifelt werden.
Im schlimmsten und nicht unrealistischen Fall wusste die Frau bis zum Schluss nicht, was mit ihr passiert und warum.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) entschied, dass der Kanton Basel-Stadt für den Fall zuständig sei. Die Frau wurde darum am 11. Juni 2018 in den Waaghof verlegt. Dort kam sie in eine Zweierzelle mit einer anderen Frau. Weil sich die Asylsuchende «sehr unruhig» verhielt, wurde sie am Morgen des 12. Juni «zu ihrer eigenen Sicherheit» in eine videoüberwachte Einzelzelle gebracht, wie es in der Anklageschrift hiess. Vier Stunden später wurde sie von der Sanität bewusstlos aus der Zelle gebracht. Sie wachte nicht mehr auf, sondern starb zwei Tage später im Spital.
Ein Kollateralschaden des Systems
Wenige Stunden nachdem die Frau sich in der Einzelzelle erhängt hatte, traf ein Schreiben des SEM im Waaghof ein. Die Frau sei noch am gleichen Tag freizulassen. Den Verstoss gegen das Dublin-Abkommen hat es nie gegeben und damit auch keinen Grund, die 29-Jährige einzusperren.
Wäre der Frau ihr Recht auf juristische Unterstützung gewährt worden, wäre es wohl nie so weit gekommen. Die Frau hätte nicht ihre letzten bewussten Momente in der Schlinge eines Traineroberteils in einer kahlen Isolationszelle erlebt, verzweifelt, unwissend, warum sie sich überhaupt an diesem Ort befindet.
Dieser sinnlose Tod ist dem Schweizer Asylsystem zuzuschreiben. Es handelt sich bei der Toten um einen Kollateralschaden unseres Asyl- und Haftregimes, den die Öffentlichkeit ausnahmsweise mitbekommen hat.
Mirjam Kohler ist News-Redaktorin und Gerichtsreporterin in Basel.
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Kommentar zum Waaghof-Urteil – Dieser sinnlose Tod ist dem Schweizer Asylsystem zuzuschreiben
Der Fall der 29-Jährigen, die sich im Waaghof erhängte, zeigt, wie Rechte von Asylsuchenden missachtet werden. Das Versagen begann nicht erst in der Isolationszelle.