Wahlen nach Zahlen
In Nordrhein-Westfalen fällt die Vorentscheidung für die Bundestagswahl. Die SPD muss bangen.

In Nordrhein-Westfalen (NRW) wird am Sonntag gewählt. Es geht um viel, vor allem für die Sozialdemokraten. Nordrhein-Westfalen ist das bevölkerungsreichste Bundesland. Hier leben 18 Millionen Menschen und 13,1 Millionen dürfen wählen. Historisch gesehen müsste der Fall eigentlich klar sein: NRW ist die «Herzkammer der Sozialdemokratie» – das beschwören die SPD-Mitglieder die letzten Tage. Die Sozialdemokraten erreichten hier mit Ministerpräsidentin Hannelore Kraft vor fünf Jahren 39 Prozent. In den letzten fünfzig Jahren stellte die CDU nur einmal den Ministerpräsidenten. Dieses Jahr sieht es anders aus. Die SPD und die CDU liegen in Umfragen gleich auf, beide um die 30 Prozent herum.
Die Wahl in NRW ist ein letzter Test vor der Bundestagswahl im September. SPD-Kandidatin Hannelore Kraft und CDU-Kandidat Armin Laschet führen in NRW einen Stellvertreterwahlkampf für Martin Schulz und Angela Merkel. Aber der Druck auf Kraft ist ungleich höher: Sie muss gewinnen. Sonst ist der Hype, den Schulz mit seiner Kanzlerkandidatur ausgelöst hat, endgültig nur noch eine Schimäre. Die Sozialdemokraten wären, bevor der Bundestagswahlkampf richtig beginnt, schon fast geschlagen.
Projekt «Schlusslicht»
Hannelore Kraft galt lange als «Kümmerin» und «Mutter Courage des Ruhrpotts». Eine Frau aus der Arbeiterschicht, die stets betont: «Ich bin die geblieben, die ich war.» Sie gilt als Wahlkampfmaschine, eine Politikerin, die besonders gut funktioniert, wenn sie mit den Menschen interagieren kann. Hannelore Kraft vertraut auf Begegnungen und Gefühle.
Armin Laschet, ihr Kontrahent, auf Statistiken. Es sind Statistiken, welche die Kraft-Regierung nicht gut aussehen lassen. Schon 2016 fing Laschet mit seinem Projekt «Schlusslicht» an. Sein ganzer Wahlkampf ist seither einer Frage gewidmet: «Wie kann es sein, dass Nordrhein-Westfalen so oft Letzter im Ländervergleich ist?» Laschet stellt die Frage überall, wo er hinkommt, und er hat es geschafft, dass alle deutschen Medien den Wahlkampf zuletzt unter besonderer Berücksichtigung dieser Frage begleiten.
Seither weiss ganz Deutschland, dass NRW in Wirtschaft, Bildung, Verkehr und innerer Sicherheit einen der hintersten Ränge belegt. Dass NRW am meisten Staus hat: Es waren letztes Jahr 218'000. Dass NRW mehr Arbeitslose hat als Thüringen und Sachsen, dass NRW am meisten Langzeitarbeitslose hat und dass es in Köln 5000 Einbrüche pro Jahr gibt, während es in München nur 1000 sind.
Laschet spricht auch Krafts wichtigstes Projekt «Kein Kind zurücklassen» an. Die Kinderarmut in NRW ist laut Statistik noch gestiegen. «Das ist keine CDU-Propaganda, sondern Forschungsergebnis der gewerkschaftsnahen Böckler-Stiftung», sagt Laschet.
Laschet macht Schlusslicht-Wahlkampf. Er versucht Kraft mit Statistiken zu bekämpfen. Er darf darauf hoffen, dass Polemik und harte Attacken gegen seine Gegnerin gar nicht notwendig sind. Laut einer Infratest-Umfrage des WDR attestieren die Bürger den Sozialdemokraten in NRW mittlerweile einzig beim Thema «soziale Gerechtigkeit» mehr Problemlösungskompetenz als der CDU.
Jäger, «ein Sicherheitsrisiko»
Armin Laschet war «Integrationsminister» in NRW. In der Partei hatte er den Übernamen «Türken-Armin». Laschet, dachten viele in seiner Partei, sei zu weich für Wahlkampf. Er gilt als Merkel-Vertrauter, auch ihre Flüchtlingspolitik hat er stets verteidigt. Im Wahlkampf hat er aber einen starken Fokus auf die Sicherheitspolitik gelegt, mit Wolfgang Bosbach hat er den bekanntesten CDU-Sicherheitspolitiker für seine Kampagne eingespannt. Neben den Einbruchzahlen thematisieren die beiden auch die Angsträume in den Städten, in denen Clans den Ton angeben und die Polizei zunehmend die Kontrolle verliert.
Besonders hat sich die CDU auf den SPD-Innenminister Ralf Jäger eingeschossen. Laschet selbst nannte ihn im Wahlkampf ein «Sicherheitsrisiko». Jäger ist für Kraft eine Hypothek: In seine Ära fallen Hooligan-Krawalle, die massenhaften sexuellen Übergriffe an der Kölner Silvesternacht von 2015, der Behördendusel um Anis Amri, der auf dem Berliner Breitscheidplatz ein Attentat verübte.
Laschet inventarisierte die Probleme von NRW und weil Schulz auch schon angekündigt hatte, er wolle Krafts Politik auf den Bund übertragen, hörte man von ihm auch: «Ich sage: Um Gottes willen, das ist eine Drohung.»
Kraft, die lange als Kanzlerkandidatin für 2017 gehandelt wurde und sich einer nationalen Beliebtheit erfreute, hat stark an Strahlkraft verloren. Ihre siebenjährige Regierung wirkte zuletzt planlos und uninspiriert. Texte über sie waren mit «Landesmutter a. D.» oder «Des Kümmerns müde» überschrieben. Die Umarmerin galt plötzlich als grosse Abwesende. Dann war es der Schulz-Hype, der Kraft zwischenzeitlich wiederbelebte und sie in Umfragen fast an die Marke von 2012 zurückführte. Aber davon ist nicht viel geblieben.
Laschets Statistiken versucht Kraft mit einem Plan für soziale Gerechtigkeit zu bannen. Sie kündigt Investitionen an: Mehr Kitas, gebührenfreie Meisterausbildung, ein vergünstigtes Azubi- Ticket, mehr Sozialwohnungen, mehr Polizei, Kampf dem Steuerbetrug.
«Viele Ideen für die Zukunft»
Im Allgemeinen meidet sie aber das politisch Konkrete. Auf ihrer Website schreibt sie: «Unser NRW ist auf einem guten Weg.» Es sei «ein modernes Land mit beeindruckenden Menschen, tollen Städten, wunderschönen Regionen und vielen Ideen für die Zukunft». In diesen Zeilen steckt ein guter Teil Realitätsverweigerung. Das lässt sie in dem zuletzt von Laschet dominierten Wahlkampf der Zahlen umso hilfloser erscheinen.
Sie glaube nicht an Umfragen, hatte Kraft schon gesagt: «Ich glaube an Wahlen.» Die Nervosität bei der SPD scheint aber gross zu sein. Diese Woche sagte Kraft, dass sie unter keinen Umständen mit der Linken koalieren werde.
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