Wächst da ein neuer Dominator heran?
Egan Bernal ist das grösste Rundfahrtentalent. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Kolumbianer seine erste Grand Tour gewinnt.

Es entsteht noch keine Aufruhr, wenn die Startnummer 42 den Teambus verlässt. Es drehen sich noch keine Köpfe, wenn dieser feingliedrige Mann Richtung Start rollt. Und es hält noch niemand an, um ihn um ein Autogramm zu bitten. «Noch» ist das entscheidende Wort in diesen Sätzen. Und bald Vergangenheit. Die Tage, in denen sich Egan Bernal an einem Radrennen unerkannt bewegen kann, sind gezählt.
Obwohl er mit seinen 22 Jahren längst nicht ausgelernt hat. Am Dienstag bringt ihn der heftige Sturz seines Leaders Geraint Thomas, der danach das Rennen aufgibt, aus dem Konzept. «Es war ein furchterregender Crash. Er beschäftigte mich bis ins Ziel. Ich brachte die Bilder nicht mehr aus dem Kopf», sagt Bernal.
Das ist eine neue Erfahrung für den Ineos-Fahrer. Tage zuvor gibt er sich im Gespräch sehr selbstbewusst: «Ich denke nicht an den letzten Crash. Denn ich will mich nicht vor etwas fürchten, das ich liebe. Ich liebe es, Rad zu fahren, den Wettkampf, das Adrenalin. Im Moment habe ich keine Angst, aber wir werden sehen.»
Nichts bremst ihn
Die Frage nach seinen Sturzerfahrungen kommen nicht von ungefähr. Bernal stürzte diese und vergangene Saison dreimal mit Verletzungsfolgen. In den beiden Frühlingen brach sein Schlüsselbein. Im vergangenen Sommer schlug er mit dem Gesicht auf – Narben an Nase und Mund werden ihn für immer daran erinnern.
Gebremst haben ihn die Rückschläge aber nicht. Bernals Aufstieg scheint unaufhaltsam. Das gilt auch an dieser Tour de Suisse. Nach der Rennaufgabe von Thomas ist Bernal Leader von Ineos. Und einer der Top-Favoriten für den Gesamtsieg. Wie gross seine Ambitionen sind, dürfte bereits heute klar werden: Hinauf nach Flumserberg steht die erste Bergankunft an, wo die Anwärter auf den Gesamtsieg ihre Ambitionen offenlegen werden.
Quintana als Inspiration
Ein Sieg an der Tour de Suisse: für einen 22-jährigen Radprofi das höchste der Gefühle. Ausser für Egan Bernal. Es gibt nicht wenige Experten, die ihm bereits diesen Sommer zutrauen, die Tour de France zu gewinnen.
Ein mutiger Standpunkt, wie der Blick auf die 105 Ausgaben der Tour zeigt: Nur zwei Sieger waren jünger als Bernal. Letztmals gewann 1983 ein 22-Jähriger – Laurent Fignon.
Bei Bernal kommt ein zweites Aber dazu – jenes seiner Herkunft: Kolumbianer haben zwar immer wieder in Frankreich brilliert. Aber nie gelang es einem, die Gesamtwertung zu gewinnen. In den Achtzigerjahren erlangten Lucho Herrera und Fabio Parra Kultstatus, weil sie besser kletterten als alle anderen, Etappensiege errangen, das Bergtrikot (Herrera) und den dritten Gesamtrang (Parra).
Er fühlt sich auch in Situationen wohl, für die sein feines Körperchen nicht prädestiniert ist.
Bernal kennt diese Geschichten nur vom Hörensagen. Mit Jahrgang 1997 schaut er zur zweiten grossen kolumbianischen Generation von Radprofis hoch. Angeführt wird diese von Nairo Quintana, der 2013 mit dem zweiten Gesamtrang Parras Tour-Erfolg übertraf.
Bernal hatte aber schon früher von Quintana Notiz genommen. «Ich erinnere mich, wie Nairo und im Jahr darauf Esteban Chaves die Tour de l'Avenir gewannen. Ich sah am Fernsehen, wie sie bei ihrer Heimkehr empfangen wurden. Da entstand der Traum, es auch einmal bis nach Europa zu schaffen. Davor hatte ich mir nie Gedanken gemacht, einmal Kolumbien zu verlassen», sagt Bernal.
Medaillen an der Bike-WM
Er hat sich zu dem Zeitpunkt selber bereits einen Namen gemacht, gehört auf dem Mountainbike zu den hoffnungsvollsten Talenten des Landes. Mit 8 bestreitet er sein erstes Bikerennen. Als er in die Juniorenkategorie aufsteigt, überzeugt er auch international. 2014 tritt er seine erste Reise nach Europa an: zur Bike-WM in Norwegen. Im Cross-Country-Rennen der Junioren holt er Silber. Im Jahr darauf bestätigt er das Resultat – mit WM-Bronze in Andorra.
Sein Talent ist also unbestritten. Der Weg, den er nun einschlägt, aber alles andere als gewöhnlich. Bernal unterschreibt nicht bei einem grösseren Bike-Team, sondern bei Androni Giocattoli, einem italienischen Strassenteam aus der zweiten Division. Wie sehr Teamchef Gianni Savio von Bernal überzeugt ist, zeigt der Fakt, dass er ihm einen Vierjahresvertrag anbietet, obwohl Bernal bis dahin noch nie ein Strassenrennen bestritten hat.
Mit 19 kommt Bernal nach Europa und bestreitet Strassenrennen in Frankreich, Italien, Spanien, Rumänien, Slowenien. Es ist ein harter Einstieg, ohne Erfolgserlebnisse für den Teenager, der sich nun unter Männern behaupten muss.
Er kann schnell berghoch fahren
«Ich war mir nicht sicher, ob ich diese Rennen überhaupt würde beenden können. Umso mehr war ich froh um meinen langen Vertrag.» Er beendet die Rennen. Und im zweiten Jahr beginnt er zu siegen. Auch an der Tour de l'Avenir, wie seine Vorbilder.
Darauf ist das Team Sky bereit, ihn aus seinem laufenden Vertrag herauszukaufen – ein höchst seltener Vorgang im Radsport. Aber nicht ohne Grund: Nach den Briten Bradley Wiggins, Chris Froome und Thomas soll er der nächste Rundfahrten-Dominator des Teams werden. Mit dem Wechsel zu Sky – heute Ineos – zeigt Bernal, wie konsequent er den Erfolg sucht. Während Quintana sich im einzigen spanischsprachigen Worldtour-Team niederliess und deshalb nie gezwungen war, Englisch zu lernen, verlässt Bernal erneut die Komfortzone. Heute drückt er sich auf Englisch bereits sehr präzise aus.
Er ist ein Kolumbianer der dritten Velogeneration, Version 3 sozusagen. Das gilt im Rennen noch viel mehr: Bernal kann nicht nur schnell berghoch fahren. Er fühlt sich auch in Situationen wohl, für die sein feines Körperchen definitiv nicht prädestiniert ist.
Er fühlte sich wie im Film
Als er im Frühling Paris–Nizza gewann, machte er die Differenz nicht nur am Berg, sondern auch auf einer Flachetappe: Als Seitenwind aufkam, hielt er mit den zum Teil 20 Kilogramm schwereren Kollegen mit und fuhr den anderen Bergfahrern in einer Windstaffel davon. «Der Wettstreit, das Adrenalin. Und dann rufen die Kollegen ‹Links! Rechts! Komm nach vorne!› Das fühlte sich an wie in einem Film, wie ein Spiel», sagt Bernal. Auch im Zeitfahren schlägt er sich für einen Kolumbianer atypisch, nämlich ganz solide.
Bei seinem Tour-Debüt vor einem Jahr gab es bereits diese Momente, in denen er auf Bergetappen den Eindruck erweckte, als könnte er spielend einen Gang raufschalten, wenn es denn sein müsste. Musste es nicht, Thomas war ja sein Leader. Und wird es an der Tour de France erneut sein.
Kein Problem für Bernal, er gibt aufrichtig den loyalen Teamkollegen: «Ich respektiere, was das Team sagt. Wenn es heisst, Geraint sei der einzige Leader, dann ist das so. Ich bin erst 22, habe noch viele Tours vor mir. Und in Zukunft, wenn ich Leader sein werde, werden die anderen meine Position ebenfalls respektieren.»
Dass es diese Leader-Diskussionen überhaupt gibt, liegt an seinem jüngsten Sturz. Vorgesehen war, dass Bernal den Giro d'Italia als Leader des Teams Ineos –und Mitfavorit auf den Sieg – bestritten hätte. Ein Schlüsselbeinbruch im Training machte den Plan zunichte.
Bernal verbrachte den Mai also statt in Italien in der Heimat. Mittlerweile hat er zwar in Europa eine Basis: in Andorra. Aber wann immer es geht, reist er für längere Trainingsphasen in seine Heimatstadt Zipaquira, auf 2700 Metern gelegen. «Höhentraining ist für uns der Normalzustand», sagt Bernal. Diesen Vorteil lasse sich ein Kolumbianer nicht nehmen. Egal, aus welcher Generation er stamme.
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