Vorsicht, bissiges Buch!
Sibylle Berg gewinnt mit ihrem 640 Seiten langen Wutschrei «GRM Brainfuck» den Schweizer Buchpreis.
Gut entschieden hat die Jury des Schweizer Buchpreises. Sibylle Berg ist die richtige Preisträgerin, ihr Roman «GRM Brainfuck» das stärkste Buch des Jahres, zu Recht trägt sie 30'000 Franken und die wichtigste literarische Auszeichnung des Landes nach Hause. «Dem entfesselten Kapitalismus setzt die Autorin ihre entfesselte Fantasie entgegen», so die Begründung der Jury: «Eine kompromisslose Gesellschaftskritik in hochexplosiver Sprache, mit Spreng-Sätzen und bösem Witz.»
Schwer hat sie es nicht gehabt, die Jury. Der Jahrgang 2019 war zwar ein «reicher», wie Jurysprecher Manfred Papst auf der Bühne im vollbesetzten Foyer des Basler Theaters sagte. In der Tat fand sich bei den Finalisten Beachtliches und Gelungenes, aber dass «alle fünf den Preis verdient hätten», trifft dann doch nicht zu. So etwas muss man als Jurysprecher halt sagen. Auch waren die Organisatoren der Preisverleihung sichtlich besorgt, die Nichtausgezeichneten – Simone Lappert, Tabea Steiner, Alain Claude Sulzer, Ivna Zic, sie erhalten je 3000 Franken Preisgeld – räumlich und psychologisch auf dasselbe Niveau wie die Preisträgerin zu heben, nämlich schnell auf die Bühne zum Gruppenbild. Eine gutschweizerische Übung, nichts allzu sehr herausragen zu lassen.

Wirklich und wahrhaftig ragt aber «GRM Brainfuck», das prämierte Werk, über die Konkurrenz hinaus wie eine Turmfrisur über gut gescheitelte Normalhaarpracht (nein, das ist nicht sexistisch gemeint!). Die Jurorin Christine Richard stellte die Vorzüge des 640-Seiten-Romans in ihrer furiosen Laudatio noch einmal heraus (hier hatte sie das bereits in einer grossen Rezension getan), beginnend mit dem Warnruf: «Vorsicht, bissiges Buch!»
Sibylle Berg absolviere einen «apokalyptischen Ritt durch die Gegenwart in die Zukunft hinein», sie erzähle, «wo wir hinkommen, wenn wir so weitermachen wie bisher», nämlich in eine Diktatur der künstlichen Intelligenz, in der es nur noch Milliardäre und «Abschaum» gebe. Den Roman werde man noch in hundert Jahren lesen, so die gewagte Prognose, die ja immerhin voraussetzt, dass es dann noch Bücher bzw. Lesegeräte geben wird und auch Menschen, die lesen.
Wenn wir mal im Jahr 2019 bleiben: «GRM Brainfuck» – die Abkürzung meint den wilden Musikstil Grime, das zweite Titelwort eine vom Schweizer Urban Müller erfundene Programmiersprache – ist kein Buch zum Mögen, erst recht keine Wohlfühllektüre. Es ist ein Buch zum Fürchten. Merkwürdigerweise bezieht es seine Stärke aus lauter negativen Bestimmungen: Es hat keine Dramaturgie, keine Personenpsychologie, es wechselt weder das Tempo noch die Temperatur, auch nicht, was Leser brauchen, Spannung und Entspannung, Hoffnung und Enttäuschung. Das Buch ist ein einziges Trommelfeuer von Tiefschlägen, ohne Pause.
Vier Kinder geraten schon am Anfang in die Scheisse (Pardon, aber das muss hier so heissen), sie schliessen sich zusammen und wundern sich darüber, was für ein Elendshaufen die Welt geworden ist, und wundern sich bald gar nicht mehr. Um sie herum lauter Figuren, denen es schlimm und immer schlimmer ergeht, und einige wenige, die für den entfesselten Neoliberalismus stehen, die sich darum bemühen, dass es den Elenden noch elender geht.
Dystopische Szenarien
Die Arbeit ist weg, weil die Maschinen sie übernommen haben; die Fabriken stehen leer: «Alte Arbeitslose verfickten hier ihre monatliche Unterstützung, junge Mädchen fickten hier, um ein wenig Zuneigung zu bekommen.» Das Gesundheitssystem ist privatisiert und unbezahlbar, anderes haben sich die Chinesen, Russen oder Araber unter den Nagel gerissen. Ein BBC-Special widmet sich der Frage «Die Armen – wie sehr gefährden sie unseren Wohlstand?»
Der Roman spielt in England nach dem Brexit, und Sibylle Berg stülpt verschiedene dystopische Szenarien übereinander; mal verblöden die Armen durch Social Media, mal durch Testosteron-Entzug, mal durch eine perfide Erfindung, mit der das Zentralnervensystem durch Bildschirme manipuliert wird. Sibylle Berg arbeitet mit Verschwörungstheorien, aber indem sie sie zitiert und nummeriert («Nummer 569»), macht sie sie zugleich als Ideologie kenntlich.
Vor allem durchzieht den Roman der immer gleiche Ton: ein Checker-Ton der Erzählerin, die vermittelt: «Eh klar, es ist alles im Eimer.» Das könnte man mit Zynismus verwechseln – es ist aber pure Verzweiflung, die alles durchdringt und die sich in Stil verwandelt.
Ein solches Buch wühlt auf, regt auf, regt an. Zum Freudebereiten ist es nicht gemacht. Der Schweizer Buchpreis aber schon. Die in Weimar geborene Preisträgerin wirkte nun eher überrascht und etwas hilflos. Sie habe ja eine Routine im Nichtgewinnen, sagte sie. Aber dann doch: Es sei toll, zu gewinnen, und: «Die Schweiz ist so lieb zu mir!» Nein, lieb ist diese Kür nicht: Sie ist angemessen und hochverdient.
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