Von der Hölle ins Paradies
Unter erbärmlichen Bedingungen lebten malische Migranten im Pariser Vorort Montreuil. Bis der Bürgermeister ein staatliches Bürogebäude beschlagnahmte.

Toumany Traoré plant die Eskalation ganz gemütlich. Er brauche eine Kaffeemaschine und Geschirr, diktiert er den Mitarbeitern des Bürgermeistes. Riesige Töpfe, um für 500 Menschen Eintopf zu kochen, hat er selber. Am Samstag laden Traoré und seine «Kameraden», wie er sagt, auf dem Bouleplatz von Montreuil zum Solidaritätspicknick. Montreuil beginnt gleich hinter der Pariser Ringautobahn. Hierher ziehen junge Familien, die nicht länger irrwitzige Mieten zahlen wollen, hier leben aber auch Menschen wie Traoré, für die selbst die günstigen Mieten von Montreuil noch zu teuer sind. Obwohl sie arbeiten, obwohl sie sparen.
Neben dem Bouleplatz, auf dem Traoré seinen Widerstand vorbereitet, steht der Bau, den er verteidigen will: ein graues Hochhaus, das völlig verlassen wirkt, wäre da nicht der Duschcontainer links vom Eingang. Drei Jahre lang stand dieses staatliche Bürogebäude leer, vor einem Monat liess dann der kommunistische Bürgermeister von Montreuil die Türen aufbrechen, und Traoré und 200 weitere Männer aus Mali zogen ein. Bürgermeister Patrice Bessac sagt, er habe «beschlagnahmt», was ohnehin den Bürgern gehören sollte. Der staatliche Präfekt spricht von einer «Besetzung» und verlangt die Räumung des Hauses. Im Gebäude deutet Traoré auf graues Linoleum: «Sehen Sie, wie sauber das ist? Hier ist das Paradies.»
Matratze auf dem Flur
Stromkabel quellen aus der Wand, als sei es ihnen dahinter zu eng geworden, mit Tesafilm aufgeklebte Papierzettel markieren die Zimmer 1 bis 20. Die Männer, die hinter den Türen ihre Pritschen aufgebaut haben, arbeiten für die Stadtreinigung oder als Küchenhilfen, keiner von ihnen hat auf dem regulären Wohnungsmarkt ein Zimmer gefunden. Sie haben Traoré zu ihrem Sprecher gewählt. Er nennt diesen Ort das Paradies, weil sie aus der Hölle kommen, aus der Rue Bara Nummer 13.
Die Rue Bara ist eine Asylbewerberunterkunft, sie liegt zwei Metrostationen entfernt. Zwischen 100 und 150 Euro kostet hier ein Schlafplatz, abhängig davon, ob die gemietete Matratze in einem Zimmer oder auf dem Flur liegt. Seit 2013 gilt das Gebäude als unbewohnbar, dennoch wird es weiter von einem offiziellen Partner der Sozialbehörden als Wohnheim genutzt. Seit fünf Jahren verhandeln der französische Staat und die Stadt Montreuil nun darüber, wo die mehr als 400 Männer aus Mali untergebracht werden sollen, die in der Rue Bara mehr hausen als wohnen. Bessac setzt mit seiner «Beschlagnahmung» nun auf Eskalation. Und genau diese Eskalation ist typisch für Frankreichs Umgang mit Flüchtlingen und Migranten.
Wo und wie sollen sie leben? Wer ist für sie zuständig? In diesen Fragen arbeiten Staat und Kommunen selten zusammen, sondern meist eher gegeneinander. Gehandelt wird erst, wenn die Lage für alle Beteiligten untragbar geworden ist. Sei es im «Dschungel von Calais», aufden Bürgersteigen von Paris,wo Asylbewerber zu Tausenden schlafen, oder nun in Montreuil.
Der Bürgermeister hat gesehen, wie Ratten über die Schlafenden huschen und Wasser eindringt.
Besucht man den Dschungel von Montreuil, die Rue Bara, betritt man als Erstes einen Marktplatz. Im Innenhof des verfallenen Gebäudes werden Zigaretten, Kartoffeln und Gebetsketten verkauft, über einer Blechtonne grillt ein Mann Mais. Früher wurden hier Klaviere gebaut, 1968 wurde es von der damaligen Stadtverwaltung zu einem Asylbewerberheim umgebaut. Seitdem ist es zur ersten Anlaufstelle für Einwanderer aus Mali geworden. Sie lebten in Bamako an der Seine, sagen sie hier, in ihrer Hauptstadt im Exil. Am Rand des Innenhofs sitzen diejenigen, die noch wissen, wie hier alles begann.
Seit fünfzig Jahren wohne er hier, sagt ein Mann in grauem Trenchcoat, im Unterkiefer fehlen ihm die Zähne. Warum ist er noch hier und nicht in der neuen Unterkunft? «Bald werde ich pensioniert, Madame, dann gehe ich zurück nach Hause.» Viele, die hier leben, versorgen Frau und Kinder in Mali. Zieht einer wieder zurück in die Heimat, übernimmt sein Cousin oder Bruder den Platz im Bara.
Ende September hat Bürgermeister Bessac hier eine Nacht verbracht. Er hat gesehen, wie Ratten über die Schlafenden huschen und das Abwasser der Toiletten durch die Decken leckt. «Absolut unwürdig», sagt Bessac. Kurz danach organisierte er den Umzug.
«Es ist hart»
Tamba Sambake ist Bessac gefolgt. Er fegt gerade ein wenig Sand aus seinem Zimmer, drinnen riecht es nach Scheuermilch. Wo früher Bürotische standen, hat Sambake sein Bett aufgebaut, ein kleiner Koffer mit all seinem Besitz dient als Nachttisch. An fünf Wochentagen arbeitet Sambake in einem Restaurant in Montparnasse. Vor kurzem haben es diese Restaurants in die Abendnachrichten geschafft, weil Präsident Emmanuel Macron einem arbeitslosen Gärtner sagte, wenn er Arbeit suche, müsse er in Montparnasse «nur einmal über die Strasse gehen», jedes Restaurant stelle dort ein.
Für 1200 Euro im Monat schneidet Sambake von acht Uhr abends bis vier Uhr früh Gemüse und wäscht anschliessend Geschirr. Wenn alles gut klappt und er auf dem Heimweg keinen Anschluss verpasst, kommt er gegen halb sechs in der Früh wieder zu Hause in Montreuil an. Neuerdings kann er noch heiss duschen, bevor er schlafen geht. Neun Jahre hat Sambake in der Rue Bara ausgeharrt. «Das Schlimmste war der Gestank», sagt er. Jeden Monat schickt er 300 Euro zu seiner Frau und seinen vier Kindern nach Mali. Gerade spart er auf einen Flug, um sie bald wieder zu besuchen. Er habe ein sehr gutes Leben, sagt Sambake, denn er finde immer Arbeit. Gerade erst sei seine Aufenthaltserlaubnis um zwei Jahre verlängert worden. Es ist, als hätte er sich selbst ein Versprechen gegeben, sich bloss nicht zu beschweren. Nur als er zeigen will, wie gross seine jüngste Tochter inzwischen sein müsste, bricht ihm die Stimme. «Es ist hart», sagt Sambake.
Sie wollen nur würdig leben
In der Cafeteria, die in diesen Tagen als Mischung aus Gebetsraum und Wohnzimmer dient, erzählt Traoré, was er den Bürgern aus Montreuil am Samstag beim Eintopfessen erklären will. Dass er und die anderen hier Arbeiter sind, die Miete bezahlen. «Wir sind Menschen, die in Würde leben wollen», sagt er.
Im Rathaus haben sie keine Angst vor der angedrohten Räumung. Nicht weil sie glauben, dass der Präfekt einlenkt. Sondern weil ab November niemand mehr auf die Strasse gesetzt werden darf. Im Winter gilt für die Schwächsten der Stadt eine Schonfrist, damit nicht noch mehr Menschen unter freiem Himmel schlafen. Im Februar zählte Paris 20'000 Obdachlose, jedes Jahr erfrieren Dutzende. Die Männer aus der Rue Bara können so gesehen nicht auf Gerechtigkeit hoffen, sondern nur auf Gnade.
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