Verhandlungen mit der EU«Von Anfang an falsch aufgegleist»
Das sagt der Basler Völkerrechtsprofessor und Europarechtsspezialist Stephan Breitenmoser zum institutionellen Rahmenabkommen.

Herr Professor Breitenmoser, befinden wir uns nach dem Besuch von Bundespräsident Parmelin in Brüssel tatsächlich in einer Sackgasse, wie vielerorts zu hören und zu lesen ist?
Nein, ich bin nun wieder zuversichtlicher als vor diesem Treffen. Denn erstens kam es nicht zu einem Abbruch der Verhandlungen, was unser gutes Verhältnis mit der EU für die nähere Zukunft zweifellos beeinträchtigt hätte. Zweitens haben beide Seiten trotz fundamentaler Differenzen ihre Kompromissbereitschaft bekräftigt – auch die EU-Kommission, die zuvor Nachverhandlungen kategorisch abgelehnt hatte. Unter diesen Umständen sehe ich durchaus Möglichkeiten, dass durch Klarstellungen und Präzisierungen die erfolgreichen und wichtigen bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU gestärkt und weiterentwickelt werden können.
Sehen Sie Möglichkeiten, die im Parlament und im Volk mehrheitsfähig sind?
Ja. Eine verstärkte Zusammenarbeit unter Beibehaltung völkerrechtlicher Grundsätze anstelle einer weitgehend offenen Integration in das Recht der EU ist meines Erachtens mehrheitsfähig, weil dies nicht einem Paradigmenwechsel gleichkäme. Ein solches Vorgehen wäre für beide Seiten ein Gewinn. Mit völkerrechtlich meine ich, dass man das Verhältnis auf der Grundlage souveräner Gleichheit weiterentwickelt – gerade auch, was die Streitschlichtung anbelangt. Eine solche verstärkte völkerrechtliche Zusammenarbeit kann durchaus auch als Plan B dienen, wenn der vorliegende und offensichtlich unfertige Entwurf für ein Rahmenabkommen scheitert.
Sie haben gesagt, es bestehe nun die Möglichkeit, aus einer Sackgasse
herauszukommen. Das heisst doch aber, dass wir uns bisher in einer solchen befanden. Wie sind wir da hineingeraten?
Nach meiner Ansicht wurde das institutionelle Rahmenabkommen von Anfang an falsch aufgegleist. So hat die Schweiz selbst für die Entscheidung von Streitfragen den Europäischen Gerichtshof vorgeschlagen und nicht den Efta-Gerichtshof unter Mitwirkung eines Schweizer Richters. Das jetzt dem Europäischen Gerichtshof vorgelagerte Schiedsgericht verfügt bei strittigen Fragen um das Rahmenabkommen, die keinen direkten Bezug zum Binnenmarkt haben, leider nicht expressis verbis über abschliessende Urteilskompetenzen. Sodann hat die Schweiz seit dem Abschluss der Bilateralen-II-Verträge 2004 unter anderem auch ein Wettbewerbsabkommen mit der EU abgeschlossen und das Cassis-de-Dijon-Prinzip einseitig eingeführt, ohne diese Aspekte in einem Bilateralen-III-Paket zusammen mit weiteren Fragen wie Strom, Forschung und Gesundheit zu regeln. Es geht hier um Anliegen, die für beide Seiten wichtig sind. Die Schweiz hätte ihre Trümpfe besser ausspielen können und müssen.
«Dies ist auf mehrere diplomatische und politische Missverständnisse und Fehleinschätzungen zurückzuführen.»
Was ist da inzwischen passiert? Noch vor einem Jahr sprach sowohl die EU als auch Bundesrat Ignazio Cassis von einem fertigen Vertrag, der vielleicht noch im Kleingedruckten ergänzt werden müsse. Und jetzt ist die Rede von einem unvollendeten Dokument.
Dies ist in der Tat erstaunlich und wohl auf mehrere diplomatische und politische Missverständnisse und Fehleinschätzungen zurückzuführen.
Sie sprechen diplomatisch von einem diplomatischen Missverständnis. Könnte man auch von einem diplomatischen Fehler sprechen?
Dass der Entwurf in einzelnen Fragen Klärungsbedarf offenbart, wird nun ja von beiden Seiten offen eingeräumt. Es wäre deshalb meines Erachtens zumindest fahrlässig, wenn nicht sogar verantwortungslos, diesen offensichtlich nicht zu Ende verhandelten Vertrag Parlament und Volk vorzulegen. Denn die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben aufgrund ihrer verfassungsmässigen Rechte einen Anspruch darauf, dass ihnen nur klare Entscheidungsgrundlagen und -möglichkeiten zur Abstimmung vorgelegt werden. Ob und wie aber der Europäische Gerichtshof letztlich über die verschiedenen noch offenen Fragen des Lohnschutzes oder des Einbezugs der Unionsbürgerrichtlinie entscheiden wird, kann man aufgrund des vorliegenden Entwurfs nicht voraussagen. Dies gilt unter anderem auch für die Frage, welche Bedeutung die Guillotine-Klausel der Bilateralen-I-Verträge für das Rahmenabkommen hat.

Bei Ihren Ausführungen kann man den Eindruck erhalten, dass Sie dem Bundesrat beim Rahmenabkommen keine guten Noten geben?
Die Verhandlungen insbesondere unter Bundesrat Burkhalter wirkten teilweise orientierungslos. Dies lässt sich meines Erachtens dadurch erklären, dass der Gesamtbundesrat und damit die anderen Departemente zu wenig einbezogen wurden. Dies im Unterschied zu den früheren bilateralen Verhandlungspaketen I und II, wo alle betroffenen Ämter und Departemente stärker koordiniert und von unabhängigen Experten begleitet wurden. Leider hatte aber Bundesrat Blocher die auf Europarecht spezialisierte Arbeits- und Koordinationsgruppe im Bundesamt für Justiz nach den erfolgreichen Schengen-Dublin-Verhandlungen aufgelöst. Zwar verfügt die Verwaltung weiterhin über hervorragende Köpfe mit guten europarechtlichen Kenntnissen, doch diese sind mit dem Tagesgeschäft in ihren Departementen absorbiert. Es fehlt ein koordinierender und vorausdenkender Thinktank in der Bundesverwaltung.
«Der stärkere Einbezug von Bundesrätin Keller-Sutter ist eine Option.»
Sie formulieren es wiederum diplomatisch. Sind Sie der Ansicht, dass der Lead vom Aussendepartement zum Justiz- und Polizeidepartement, also von Bundesrat Cassis zu Bundesrätin Keller-Sutter wechseln müsste?
Ja, der stärkere Einbezug von Bundesrätin Keller-Sutter ist eine Option, die näher zu prüfen wäre. Bereits bei den Bilateralen-II-Verträgen hat der Bundesrat die Verhandlungsführung in den rechtlich anspruchsvollen Dossiers von Schengen und Dublin der hervorragenden Juristin Jagmetti-Greiner aus dem Bundesamt für Justiz übertragen, nachdem er zunächst einen Nichtjuristen aus dem Wirtschaftsdepartement dafür bestimmt hatte; auf diese positive Erfahrung hätte man bereits bei Beginn der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen zurückgreifen müssen.
Aber kann man jetzt einfach wieder aufs Neue verhandeln? Aus Schweizer Sicht ist die Situation doch so, dass die einen überhaupt nichts wollen und andere wie die Handelskammern unbedingt unterzeichnen wollen?
Wenn der Brief der Handelskammern an den Bundesrat, auf den Sie anspielen, und Aufrufe von Alt-Bundesräten als allgemeine Unterstützung für die Weiterführung und Weiterentwicklung des bilateralen Weges verstanden werden, dann ist eine solche Rückenstärkung legitim und verständlich. Wenn solche Aufrufe aber als Aufforderung gemeint wären, den nun vorliegenden Entwurf ohne zusätzliche Klarstellungen und Präzisierungen telquel dem Parlament und dem Volk vorzulegen, dann wären sie aus den vorhin erwähnten Gründen nicht nur wenig hilfreich, sondern letztlich auch verantwortungslos und mit weitreichenden Kollateralschäden verbunden, weil ein Scheitern absehbar ist.
Zurzeit werden vor allem die drei Themenbereiche Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie und staatliche Beihilfen diskutiert. Kann man über diese Themenbereiche ein Abkommen erzielen, das Chancen auf eine Mehrheit hat?
Ja, sofern die am jüngsten Treffen bestärkte Kompromissbereitschaft tatsächlich auch in die Verhandlungen Eingang findet. Weil beim Rahmenabkommen, wie dies ja schon sein Name sagt, die institutionellen Fragen im Zentrum stehen, halte ich deren weitere Tabuisierung für absurd und im Hinblick auf eine allfällige Volksabstimmung als kontraproduktiv. Ohnehin stehen Fragen des Lohnschutzes, der Unionsbürgerrichtlinie und der Beihilfen in einem logischen Zusammenhang mit den institutionellen Fragen der Streitschlichtung und der dynamischen Rechtsübernahme. Doch mit dem Argument, dass Souveränität in der heutigen Zeit der Globalisierung nicht mehr absolut sein könne, wird hier ein Tabu geschaffen, was letztlich zu weiterer Kritik am Rahmenabkommen führt – auch wenn es natürlich zutrifft, dass staatliche Souveränität nicht umfassend sein kann und Staaten durch Verträge ihre Souveränität nicht nur begrenzen, sondern im Gegenteil auch stärken und erweitern können.
Nun ist es aber doch so, dass niemand über die institutionellen Angelegenheiten spricht. Müsste man für die Klärung dieser Fragen nicht fast schon auf Feld eins zurück?
Sicher ist, dass es mit Klarstellungen und Präzisierungen nicht getan ist. Es braucht echte Nachverhandlungen, deren Ergebnisse meines Erachtens aber durchaus in gemeinsamen Erklärungen, in einem Anhang oder einem Zusatzprotokoll völkerrechtlich verbindlich geregelt werden können. Der vorliegende Text könnte zwar, müsste aber nicht geändert werden.
Schauen wir dennoch die drei Themenbereiche an. Es ist ja so, dass in der politischen Diskussion der eine gegen den anderen ausgespielt wird. So wäre beispielsweise der SP-Co-Präsident bereit, die Unionsbürgerrichtlinie zu akzeptieren, um die flankierenden Lohnschutzmassnahmen zu sichern. Ist ein solcher Poker zielführend?
Die Kompromissbereitschaft auch in der Schweiz würde mit einer Paketlösung zweifellos erhöht. Zu einer solchen gehören dann auch Aspekte wie die Kohäsionszahlungen und die weiteren anstehenden Verhandlungsdossiers zwischen der Schweiz und der EU. Deswegen bedaure ich, dass das nun vorliegende Abkommen nicht von Anfang an als Bilateraler-III-Vertrag aufgegleist worden ist, unter Einschluss einzelner klar umschriebener institutioneller Regelungen. Auf diese Weise hätten die bilateralen Verträge auf pragmatische Weise weiterentwickelt werden können. Dies ist aber auch nach einem Scheitern des vorliegenden Rahmenabkommens wohl noch immer möglich.
Es ist auffällig, dass in der Region Basel sehr viel sensibler auf den Besuch von Bundespräsident Parmelin in Brüssel reagiert wurde als in der übrigen Schweiz. Um wie viel wichtiger ist das Verhältnis zur EU in einer Grenzregion wie der Nordwestschweiz als in anderen Regionen?
Die meisten Schweizer Kantone sind Grenzkantone und mit ihren Nachbarregionen in Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich wirtschaftlich eng verbunden. Dies hat über den Verkehr von Grenzgängern und den gegenseitigen Güteraustausch hinaus auch zur Bildung vielfältiger politischer Zusammenarbeitsformen geführt. Dementsprechend besteht eine grosse Sensibilität gerade auch für Fragen der Personen- und Niederlassungsfreiheit sowie der bilateralen Verträge insgesamt.
Würden Sie so weit gehen zu fordern, dass man dem Volk nur ein Paket vorlegt, bei dem die Zustimmung sozusagen garantiert ist?
Ein ausgewogenes Paket, das weitherum auf Akzeptanz stösst, erscheint mir möglich und sinnvoll. Eine pragmatische Annäherung an die EU mit einer überschaubaren und begrenzten Integration in den EU-Binnenmarkt ist meines Erachtens mehrheitsfähig. Die Bevölkerung hat denn auch in mehreren Abstimmungen ihre Bereitschaft bekräftigt, diesen bilateralen Weg fortzusetzen. Ich räume aber ein, dass dieser Weg anspruchsvoll ist und – wie bei jeder Wanderung – deshalb auch Klarheit über Ziel und Tempo bestehen sollte. Doch über die längerfristige Ausgestaltung des Verhältnisses mit der EU wurde in der Schweiz weder nach dem EWR-Nein im Jahr 1992 noch im Zusammenhang mit der Totalrevision unserer Bundesverfassung von 1999 näher reflektiert und diskutiert. Diese Diskussion gilt es nun nachzuholen.
Müsste die Schweiz dazu nicht eine diplomatische Offensive starten, nicht nur in Brüssel, sondern auch in den Hauptstädten der Mitgliedsländer?
Ja, die Schweiz könnte und sollte sich in der Tat verstärkt um Unterstützung einzelner Mitgliedsstaaten bemühen. Ein solches Lobbying war bereits bei den Bilateralen-I- und -II-Verträgen wichtig und erfolgreich. So wollten die EU-Kommission und eine Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten der Schweiz eine Teilnahme an Schengen und Dublin verwehren, doch mithilfe insbesondere unserer deutschen und österreichischen Nachbarn im Rat der EU-Mitgliedsstaaten konnte das Bilaterale-II-Paket schliesslich erfolgreich abgeschlossen werden.
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