Chemie-NobelpreisVom Vorbild der Natur zum Nobelpreis
Benjamin List und David MacMillan teilen sich den diesjährigen Nobelpreis für Chemie. Ihre Entdeckungen helfen heute bei der Herstellung von Arzneistoffen und machen die chemische Industrie umweltfreundlicher.

Es gibt diesen Dauerscherz in der Familie von Benjamin List. Immer wenn das Telefon klingelt und eine schwedische Telefonnummer angezeigt wird: Könnte ja der Anruf aus Stockholm sein. Dort sitzt die Nobelstiftung. Von dort aus wird man angerufen, sollte man diesen Preis eines Tages tatsächlich bekommen. Wie List geht es vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, den Scherz lernt man praktisch im Grundstudium.
«Da war niemandem nach Scherzen zumute.»
Der Chemiker List, Direktor am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr, macht mit seiner Familie gerade Ferien in Amsterdam. Am Mittwochmorgen sass er beim Frühstück, als das Mobiltelefon klingelte mit einer der schwedischen Nummer im Display. «Da war niemandem nach Scherzen zumute», so List, «ich schaute nur meine Frau an und suchte nach einem ruhigen Ort zum Telefonieren.» Es war tatsächlich Stockholm am Apparat, ein Mitglied des Nobel-Komitees teilte ihm mit, dass List sich den diesjährigen Nobelpreis für Chemie mit dem britischen Chemiker David MacMillan teilen wird. «Das hatte ich überhaupt nicht erwartet», sagte List während der Pressekonferenz der Nobel-Stiftung gestern Mittwoch und klang dabei noch immer überrascht.

Die grundlegenden Entdeckungen machten die beiden unabhängig voneinander um die Jahrtausendwende herum. Sie entdeckten eine neue Klasse von Katalysatoren, die chemische Reaktionen ermöglichen. Damit lassen sich Moleküle vom pharmazeutischen Wirkstoff bis zur Massenchemikalie sehr einfach und präzise konstruieren. Die Methode habe die chemische Produktion umweltfreundlicher gemacht und sei für die Entwicklung von Medikamenten bedeutsam, urteilte das Nobel-Komitee.
Die zündende Idee
Katalysatoren ermöglichen viele chemische Reaktionen überhaupt erst. Nur in Gegenwart solcher molekularen Reaktionshelfer fügen sich manche chemische Komponenten zu neuen Substanzen zusammen. Über Jahrzehnte hinweg waren zwei Gruppen von Katalysatoren bekannt, Metalle und Enzyme, das sind Biomoleküle, die in jedem Organismus die zentralen Lebensvorgänge antreiben. List und MacMillan fügten eine dritte Katalysatorklasse hinzu, die heute in der chemischen und pharmazeutischen Industrie breit zum Einsatz kommen. Arzneimittelwirkstoffe wie Oseltamivir, das zum Beispiel gegen Influenzaviren eingesetzt wird, aber auch etwa lichtabsorbierende Chemikalien in Solarzellen werden heute mithilfe der Organokatalyse in grossen Mengen vergleichsweise günstig hergestellt.
Benjamin List, geboren 1968 in Frankfurt am Main, arbeitete Ende der 1990er-Jahre am kalifornischen Scripps Research Institute an Biomolekülen mit katalytischer Wirkung, als ihm eine grundlegende Frage kam. Was genau in diesen Biomolekülen steuert und ermöglicht überhaupt, dass eine chemische Reaktion abläuft? Es gibt Enzyme, die Metalle enthalten, und eben solche ohne Metalle. Er erinnerte sich an Studien aus den 1970er-Jahren, laut denen einzelne Aminosäuren – das sind die Grundbausteine, aus denen sich Proteine zusammensetzen – in der Lage sind, chemische Reaktionen zu beschleunigen. Er experimentierte mit der Aminosäure Prolin und sah, dass diese in der Lage war, die Kohlenstoffatome zweier Moleküle miteinander zu verknüpfen.
Das alleine war bereits bemerkenswert, doch die Reaktion lief zudem «asymmetrisch», wie Chemiker sagen. In symmetrischen chemischen Reaktionen entsteht oft eine Mischung aus Molekülen, die sich zueinander verhalten wie Spiegelbilder oder die beiden Hände des Menschen. Auch chemische Verbindungen werden daher als links- oder rechtshändig bezeichnet, je nach Aufbau, beziehungsweise als D- und L-Enantiomere.
Chemie nach Wunsch
Auf Organismen können die beiden Formen unterschiedliche Wirkungen haben. Der Naturstoff Limonen etwa riecht in der einen Form orangenartig und kommt zum Beispiel in Zitrusfrüchten vor. Der Geruch des chemischen Spiegelbildes erinnert an Terpentin und kommt in Minzölen oder Baldrian vor. Manchmal kann ein Enantiomer sogar schädlich sein: Die verheerende Wirkung des Arzneimittels Contergan auf ungeborene Kinder im Mutterleib beruhte darauf, dass beide chemischen Formen des Wirkstoffmoleküls im Präparat enthalten waren. In der asymmetrischen Synthese entsteht hingegen überwiegend die gewünschte Form.
List war zu diesem Zeitpunkt zwar die Tragweite seiner Entdeckung noch nicht klar, doch er erahnte das Potenzial. In dem im Jahr 2000 erschienenen Fachartikel erklären er und seine Kollegen, dass sie weitere organische Katalysatoren wie Prolin suchen wollten. Erst jetzt, 20 Jahre später, werde die ganze Leistungsfähigkeit der organischen Synthese erkennbar, sagte List am Mittwoch während der Pressekonferenz.
Unabhängig zum gleichen Ziel
Ohne dass die beiden voneinander wussten, hatte David MacMillan, geboren 1968 in Schottland und heute Professor an der Princeton University, nur ein paar hundert Kilometer nördlich von List ein ähnliches Ziel vor Augen. Bis 1998 hatte der Chemiker an der Harvard University an der Ostküste der USA an Metall-Katalysatoren gearbeitet, die ebenfalls in der Lage sein sollten, asymmetrische Reaktionen zu ermöglichen. Er fand es jedoch frustrierend, dass diese keine breite industrielle Anwendung fanden, teuer und ineffektiv wie sie waren. Mit dem Wechsel an die University of California in Berkeley liess er die Metallkatalysatoren hinter sich und begann, organische Moleküle zu entwickeln, deren Funktion sich mehr an der Wirkweise biologischer Enzyme orientierte.

Er erschuf schliesslich einen einfachen organischen Katalysator, der in der Lage war, Kohlenstoffatome zusammenzufügen. Und ihm war klar, dass er einen Namen brauchte für das neue Katalyse-Konzept. Im Januar 2000, kurz bevor der Fachartikel von List erschien, reichte er sein Manuskript zur Veröffentlichung ein, in dem zum ersten Mal der Begriff «Organokatalyse» verwendet wurde.
Seit diesen ersten Arbeiten hat sich das Forschungsgebiet rasant entwickelt, und organische Katalysatoren zählen zu den wichtigsten Werkzeugen der chemischen Industrie. Die wirkliche Revolution beginne gerade erst, sagt Benjamin List. Mit den neuartigen Katalysatoren seien heute Reaktionen möglich, die weder Metalle noch Enzyme schaffen würden.
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