Vieles ist relativ
Die britische Premierministerin Theresa May hat eine turbulente Arbeitswoche hinter sich: Einer Niederlage im Kabinett folgte ein unerwartet gutes Abschneiden ihrer Partei bei den Lokalwahlen.

Was ihre berufliche Stellung betrifft, muss die britische Premierministerin Theresa May seit letztem Juni dem Prekariat zugerechnet werden: Damals schnitt ihre Konservative Partei bei den Unterhauswahlen überraschend schlecht ab; einige Monate lang verging kaum ein Tag, an dem nicht irgendwer das Ende ihrer Karriere ankündigte.
Es ist seither ein ständiges Auf und Ab: Diese Woche begann für May durchwachsen, ging schlecht weiter und endete angesichts der Umstände recht erfreulich. Bereits am Sonntag hatte die konservative Regierungschefin mit Amber Rudd nicht nur ihre Innenministerin, sondern auch ihre mutmasslich engste Vertraute im Kabinett verloren. Rudd hatte wegen der skandalösen Behandlung von Immigranten aus früheren Kolonien, die von Ämtern zu Unrecht als illegale Einwanderer betrachtet worden waren, zurücktreten müssen.
Am Montag ernannte May mit Sajid Javid einen Nachfolger. Man konnte das als Befreiungsschlag sehen: Javid hatte sich in Einwanderungsfragen eher liberal positioniert; seine eigene Herkunft als Sohn pakistanischer Einwanderer mag ihm zudem eine gewisse Glaubwürdigkeit unter ethnischen Minderheiten verleihen, die den Tories mehrheitlich misstrauisch gegenüberstehen.
Der Neue als Risikofaktor
Seine Berufung bedeutete aber auch ein gewisses Risiko: Anders als seine Vorgängerin gehörte Javid nie zu Theresa Mays Seilschaft. Zudem dürften seine wirtschaftsliberalen, ja libertären Überzeugungen mit den Vorstellungen der Premierministerin, die tendenziell eher auf einen starken Staat setzt, nicht immer gut zu vereinbaren sein.
Am Mittwoch wirkten sich die veränderten Kräfteverhältnisse im Kabinett erstmals zu Mays Ungunsten aus: Zwar hatte Javid beim Brexit-Referendum vom Juni 2016 (wie May und Rudd) gegen einen Austritt aus der EU gestimmt, doch im tiefsten Inneren, darauf deuten Äusserungen aus der Vergangenheit hin, ist der neue Innenminister ein ausgesprochener EU-Skeptiker. Und so gehörte er bei dem dreistündigen Treffen vom Mittwoch zu einer ganzen Reihe von Ministern, die Zweifel an Mays Plänen äusserten, nach dem Brexit eine «Zollpartnerschaft» mit der EU einzugehen.
Eine solche hätte darin bestehen sollen, dass es nach Londons Austritt mit dem Handel weitergegangen wäre wie bisher, wobei Grossbritannien künftig für die EU Zölle einkassiert hätte. «Das klingt verrückt und unpraktikabel. Und das ist es auch», soll ein Minister laut dem für gewöhnlich gut informierten Spectator über Mays Plan gesagt haben. Diese Ansicht erwies sich – offenbar zur Überraschung der Premierministerin – als Mehrheitsmeinung am Tisch. Am Ende stand eine Niederlage für May, wobei Javid den Ausschlag gab. «Wir werden die Zollunion komplett verlassen. Punkt», zitiert der Spectator einen Anwesenden.
May befindet sich in dieser Frage in einer unmöglichen Situation: Für den Fall, dass die Regierung eine Zollunion anstrebt, haben um die 60 konservative EU-Gegner, als deren offiziöser Sprecher der ebenso intelligente wie eloquente Abgeordnete Jacob Rees-Mogg betrachtet werden darf, eine Rebellion im Unterhaus angekündigt. Andererseits gibt es in der konservativen Fraktion aber auch Stimmen, welche die Regierung darauf verpflichten wollen, für eine Zollunion einzutreten und die bereit sind, dafür mit der Labour-Opposition gemeinsame Sache zu machen. Gegenüber den unbedingten Gegnern einer Zollunion dürften die unbedingten Befürworter in der Fraktion zwar in der Minderheit sein: Beobachter gehen allenfalls von einem Dutzend möglicher Abweichler aus. Doch damit kann sich May angesichts ihrer äusserst knappen Mehrheit kaum trösten.
Aus Ratlosigkeit vertagt
Nächste Woche wollen sich die Minister noch einmal treffen, um dann eine Lösung zu finden. Ein Kompromiss scheint bis jetzt kaum denkbar. Beide Modelle hätten Vor- und Nachteile und müssten nun genauer angeschaut werden, sagte Brexit-Minister David Davis. Anders gesagt: Man hat die Angelegenheit aus Ratlosigkeit erst einmal auf die lange Bank geschoben.
Sehr vieles ist derzeit relativ in der britischen Politik, und so endete die Woche für May mit so etwas wie einem Erfolg. Bei den Lokalwahlen, die am Donnerstag in weiten Teilen Englands stattfanden, verloren die Tories zwar Mandate, doch längst nicht so viele, wie einige erwartet hatten. Labour gewann hinzu, doch ebenfalls eher moderat.
Lokale Urnengänge werden im traditionell zentralistischen Grossbritannien seit jeher in erster Linie als Stimmungstest für die nationale Politik begriffen. Würden die Konservativen nun spektakulär schlecht abschneiden, so orakelten einzelne Kommentatoren im Vorfeld, könnte es May ähnlich ergehen wie Margaret Thatcher, deren erzwungenem Abgang im November 1990 ebenfalls eine Niederlage auf lokaler Ebene vorausgegangen war.
Corbyns Grenzen
Es kam anders: Ihre Londoner Hochburgen Westminster, Wandsworth und Kensington, in denen sich Labour Chancen ausgerechnet hatte, konnten die Tories halten. Auch in Barnet siegte die Partei der Premierministerin, was Kommentatoren auf eine Reihe antisemitischer Vorfälle bei Labour zurückführten: Der Nord-Londoner Bezirk weist einen vergleichsweise hohen jüdischen Bevölkerungsanteil auf. Ein Jude, der seit über 60 Jahren Labour-Mitglied sei, habe ihm erzählt, er habe seine eigene Partei nun erstmals nicht mehr wählen können, berichtete der Labour-Abgeordnete John Mann, ein Kritiker von Parteichef Jeremy Corbyn, auf Twitter.
Für Letzteren sind die Ergebnisse eine relative Niederlage: Selbst im Vergleich mit einer schwachen Premierministerin ist der prononciert linke Corbyn offenbar nicht mehrheitsfähig.
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