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«Viele verstehen Geschichte als Politik mit anderen Mitteln»

«Empirischer Blick auf die Welt»: Oliver Zimmer (54), Professor für moderne europäische Geschichte in Oxford.

Herr Zimmer, Sie haben Ihr gesamtes Studium in Zürich absolviert, aber unmittelbar nach dem Lizenziat verliessen Sie die Schweiz und gingen nach England. Was zog Sie damals fort?

Und wie klang dieses Echo?

Erinnern Sie sich an ein bestimmtes Erlebnis – dass Sie dachten: Wow, so kann man also auch miteinander reden?

Weshalb soll das in der Schweiz nicht möglich sein?

Es steht nirgends geschrieben, nur linke Historiker dürften in der Schweiz eine akademische Karriere machen.

Wie äussert sich das?

Weshalb war Bielefeld so wichtig?

Und, war man es auch?

Also eher keine Avantgarde?

Was zeichnet denn einen guten Historiker eigentlich aus?

Erinnern Sie sich an eine solche Irritation: dass sich durch eine Quelle plötzlich eine neue Erklärung auftat?

Und dieser Konsens ist falsch?

«Dieses Denken stammt aus der Aufklärung: Vom Menschenkind wird man zum Erdengott.»

Sie schrieben ein Buch über das Nation-Building der Schweiz im 19. Jahrhundert. Gab es da auch eine solche Irritation?

Was irritierte Sie daran?

Sie betonen oft die politische Haltung eines Historikers: links oder nicht links.

Diese Idee, heute seien wir viel klüger …

Das klingt für viele Ihrer Kollegen vermutlich etwas altmodisch, nach Leopold von Ranke, dem deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts, der wissen wollte, «wie es eigentlich gewesen» ist.

Als Sie sich in den Neunzigerjahren mit dem Nationalismus zu beschäftigen begannen, lag der Nationalstaat für viele schon auf dem Misthaufen der Geschichte. Der Eiserne Vorhang war gefallen, die EU erweiterte sich. Wie kamen Sie damals zu diesem denkbar unmodischen Thema?

Inzwischen leben sie seit über zwanzig Jahren in England und haben sich diesen Kinderblick des Beobachters quasi erhalten können.

Eigentlich böte die Schweiz als mehrsprachiges Land beste Voraussetzungen für Diskussionen über Nationalität und Identität. Gab und gibt es denn keinen Austausch zwischen Deutschschweizern, Romands und Tessinern über solche Fragen?

Jetzt reden Sie fast wie ein linker Mythenjäger.

Taugt der Begriff «Sonderfall» überhaupt etwas? Nimmt man das Wort in den Mund, kommt reflexartig die Antwort, jedes Land sei ein Sonderfall.

Sie wenden sich mit Ihren Erklärungen inzwischen regelmässig an ein breiteres Publikum, zum Beispiel im Magazin. Vor zehn, fünfzehn Jahren schrieben Sie einige Male für die NZZ, danach veröffentlichten Sie lange nichts mehr in Schweizer Zeitungen. Geschah das absichtlich oder zufällig?

Sie verteidigten damals gewisse vormoderne Eigenheiten der Schweiz wie die Gemeindeautonomie.

Sie haben einmal zustimmend den englischen Philosophen John Gray zitiert: «In der Philosophie geht es normalerweise darum, den Zeitgeist mit Argumenten zu unterfüttern.»

Weshalb sollen Historiker nicht auch geschichtsphilosophisch argumentieren?

Und in Grossbritannien?

Woran liegt das? Stimmt das Klischee, wonach die Engländer mehr Verständnis für Exzentriker haben?

Auf dem Kontinent ist der Begriff «konservativ» eher negativ konnotiert. Kaum eine Partei nennt sich heute noch so, in der Schweiz heissen die Konservativen längst schon Christdemokraten.

Worin besteht bei Berlin, Gray oder ­Tocqueville das Konservative?

Wenn diese Bedürfnisse konstant sind, lassen sie sich also nicht verändern?

Auch für Liberale ist der Fortschritts­gedanke zentral.

Was sagen Liberale wie Gray dazu?

Und warum gerade heute?

Religiös, wirklich?

Sie wollen aber nicht hinter die Aufklärung zurück, oder?

Was sieht man dort?

Welcher Denkrichtung fühlen Sie sich zugehörig? Dem Liberalismus?

In Ihren neueren journalistischen Arbeiten gibt es ein Motiv, das immer wieder auftaucht: der Bünzli als Verteidiger der Freiheit, der Kleinbürger als Rebell.

«Wenn alle den Biedermann zum Brandstifter erklären, halte ich dagegen.»

An welches Buch denken Sie?

Dieses Leben im Kleinen?

Weshalb ist Orwell für Sie glaubwürdiger als Frisch?

Orwell war ein Linker. Was schrieb er über die englische Klassengesellschaft?

In der Not besann man sich auf so schräge Vögel wie Winston Churchill.

Sind Intellektuelle verführbarer?

Weshalb gibt es in der Schweiz eigentlich keinen linken Patriotismus, wie ihn Orwell in England vertrat? Mit ihren egalitären Strukturen ist die Schweiz doch anschlussfähig für linke Erzählungen, ja fast schon ein linkes Projekt.

Viele Linke berufen sich heute sogar auf 1848, auf die Gründung des Bundesstaats. Das ist ironisch, weil ab 1848 das liberale «System Escher» entstand.

Womit genau?

Und wenn man als links alles begreift, was im weiteren Sinn emanzipatorisch ist? In der Schweiz hat der Einzelne mehr Einfluss als überall sonst.

Kritik gab es wohl spätestens 1970, als über die Überfremdungs-Initiative abgestimmt wurde.

«Viele Linke und Liberale meinen zu wissen, wohin die Reise gehen soll.»

Wie kommen Sie darauf?

Viele Schweizer Liberale sind heute gegen einen EU-Beitritt.

Wie erklären Sie sich das?