«Viel Spass?! Sie sind ja nicht ganz bei Trost!»
Dennis Skinner ist Englands zornigster Abgeordneter. Ein Gespräch über Bergwerke, den Brexit und das Glück.

In Dennis Skinner hausen die Wölfe. 84 Jahre alt ist er, seit über 60 Jahren Mitglied der Labour-Partei, seit 47 Jahren im Unterhaus und dort noch immer ein gefürchteter Polemiker. Als Warzen, Würmer, Kokser und Schurken hat er seine Gegner bezeichnet, keiner wurde öfter des Saales verwiesen als er.
New Labour, Tony Blairs grosses Modernisierungsprojekt, ging anscheinend spurlos an Skinner vorbei. Heute ist er einer der letzten Arbeiter im Parlament. Grossbritannien ist eine Klassengesellschaft, das ist die Formel, die für ihn alles erklärt. Und Politik ist Kampf: Wir da unten gegen die da oben. Sein Weltbild mag ein einfaches sein, doch ein einfacher Gesprächspartner ist Dennis Skinner nicht: Oft läuft sein Gesicht rot an und mehrmals steht unser Gespräch kurz vor dem Abbruch.
Mister Skinner, 1970 wurden Sie ein erstes Mal ins Parlament gewählt …
Dennis Skinner: Gerald Kaufman und ich sind seit 1970 da, und auf der anderen Seite, bei den Tories, Kenneth Clarke.
Verstehen Sie sich mit Clarke?
Ich sage ihm Guten Morgen, mehr nicht. Wenn Sie ins Parlament gewählt werden, müssen Sie sich entscheiden, wie Sie Ihren Job machen. Ich komme immer sehr früh, weil ich Bergarbeiter war und daran gewöhnt bin. Wir standen um fünf Uhr auf, wenn wir in die Grube fuhren.
Das Parlament ist jetzt Ihr Bergwerk.
Abgeordneter zu sein, ist viel einfacher. Einige kommen hier erst um halb zwölf an, kurz bevor die Sitzungen beginnen. Ich lese jeden Brief. Die meisten lassen das andere für sich machen. Als ich hier anfing, gab es noch nicht einmal Sekretärinnen.
Sie schreiben niemals E-Mails. Wer etwas von Ihnen will, muss zum Telefon greifen oder einen Brief schreiben.
Es gibt hier rechte Journalisten, die meine Mails lesen würden. Es gibt mehrere Facebook- und Twitter-Accounts unter meinem Namen. Ich weiss nicht, wer so etwas macht!
Vielleicht Fans von Ihnen.
Begreifen Sie denn nicht, dass manche in diesem Schlangennest auf jedes Wort von Ihnen achten?! Ich kann Ihnen Leute nennen, die wegen E-Mails ihren Job verloren haben: Der Erste war Stephen Byers, ein Staatssekretär unter Tony Blair. An dem Tag, als in New York die Twin Towers eingeebnet wurden, schrieb einer aus seinem Stab in einer Mail, dies sei ein guter Zeitpunkt, um schlechte Nachrichten zu verbergen. Byers wurde aus dem Amt gejagt.
«Begreifen Sie denn nicht, dass manche in diesem Schlangennest auf jedes Wort achten?!»
Es heisst, Sie mögen keine Journalisten.
Die meisten von ihnen sind rechts. Ich war seit 20 Jahren nicht mehr in der BBC. Das begann, als Neil Kinnock Labour-Chef war. Er wies sie an, mich nicht mehr einzuladen. Glauben Sie ja nicht, dass ich deswegen heule und ein grosses Theater mache! Sie haben mich danach gefragt!
Auf Neil Kinnock folgte Tony Blair. Was bleibt von ihm?
Das Wichtigste war sicher das Friedensabkommen in Nordirland. Wäre er nicht in den Irak gegangen, wäre das sein Erbe. Die waren verrückt!
Warum zog Blair in den Krieg?
Es war ein christlicher Kreuzzug. Er war durchdrungen von der Idee, dass er ein Ritter wäre, der die Weltgeschichte ändern könnte. Die Amerikaner gingen wegen des Öls. In den USA ist das Geld König. Blair legte sich ins Bett mit George W. Bush.
Sie waren auch schon vor dem Irak-Krieg nicht Tony Blairs Freund. Andererseits war er es, der Labour wieder an die Macht brachte.
Ja, aber das war vorher. 1997 sagte er nicht, wählt mich, und ich werde Saddam Hussein stürzen!
Änderte er sich im Amt?
Er traf Bush. Er ging nach Amerika. Es gelang ihm, dort einige Leute zu begeistern. Sie brauchen in der Politik immer einen Abwehrmechanismus gegen Bewunderer.
Was ist Ihr Abwehrmechanismus?
Das habe ich Ihnen doch gesagt: Ich versende keine E-Mails!
Mit 16 haben Sie die Schule verlassen …
Ja, ich ging hinunter in die Kohlemine. Nicht, weil ich das Geld brauchte, sondern weil ich mit jungen Typen Fussball spielte. Sie erzählten mir von ihrer Arbeit. Sie waren Männer, und ich war noch immer ein Bub mit einer Kappe auf dem Kopf.
Waren Ihre Eltern enttäuscht?
Als ich zehn war, hatte ich ein Stipendium bekommen. Meine Eltern dachten, ich wäre auf dem Weg zur Universität. Das warf ich weg.
Erinnern Sie sich an den Krieg?
Die Zeitungen waren voll vom Krieg. Ich fragte mich, was die nur schreiben würden, wenn der Krieg einmal vorüber wäre. Ich verteilte damals Zeitungen. Als die Russen Stalingrad befreit hatten, sagte ich zu einem der Leute, die ich belieferte: «Mister Parker, jetzt ist alles vorbei.»
Bekamen Sie etwas von den Bombardierungen mit?
Die Deutschen bombardierten Sheffield. Sie wollten wohl auch den Bahnhofsknotenpunkt in Clay Cross treffen, ganz bei uns in der Nähe. Am nächsten Morgen schauten wir uns die Krater an. Wenn die Sirene ertönte, verbargen wir uns unter der Kellertreppe, meine Eltern, meine neun Geschwister und ich.
Hatten Sie jemals Angst?
Nein, denn ich wusste, dass sie Sheffield treffen wollten. Aber bei uns gab es auch immer wieder Alarm. Wir hörten die Entwarnungssirene, ein wunderbarer, melodiöser Ton (macht ein wimmerndes, lang gezogenes Geräusch), während die Sirene, die am Morgen die Angriffe ankündigte, wähä-wähä-wähä machte. Wenn die andere ertönte, kamen wir hervor und machten dort weiter, wo wir aufgehört hatten.
Bewunderten Sie Winston Churchill?
Ich wusste, dass Churchill Jahre zuvor die Polizei angewiesen hatte, auf Bergarbeiter in Süd-Wales zu schiessen. Dass Hitler böse war, realisierten wir ohne jeden Zweifel. Er war wie Donald Trump. Er beschuldigt Muslime; Hitler sprach von Juden, Kommunisten und Zigeunern.
Ist Trump gefährlich oder wird das amerikanische System ihn einhegen?
Er kann nicht halten, was er versprochen hat. Die Automatisierung hat die Fabrikarbeiter ersetzt. Als ich jung war, gab es zehnmal so viele Leute, die Autos produzierten. Jetzt tun das Roboter. Sie können den technischen Fortschritt nicht stoppen. Sie müssen die Leute dazu bringen, andere Dinge zu tun. Ich bin dafür, dass wir ein paar Kohleminen in Betrieb halten, aber ich weiss auch, dass die Mehrheit der Briten mir da nicht zustimmt.
Warum wollten Sie die Bergwerke offen halten?
Weil ich über 20 Jahre lang dort unten gearbeitet habe.
Also nur aus Nostalgie?
Nein, ich sage das nicht aus romantischen Gründen. Wir importieren 40 Millionen Tonnen Kohle! Die ist nicht billiger als britische Kohle! Wenn Sie den Bergbau verstehen, dann wissen Sie, wie das ist: Sie wetten unterirdisch gegen Mutter Natur. Einige Bergwerke produzieren mehr, andere weniger. Wenn Sie in neue Gesteinsschichten vorstossen, dann subventionieren die produktiven Bergwerke die weniger produktiven, bis diese wieder bessere Schichten erreicht haben. Wenn alles privatisiert ist, fehlt dafür die Geduld. Verstehen Sie das denn nicht?!
Sie meinen, man muss längerfristig denken, wenn man eine Mine betreibt.
Wachen Sie doch auf! Es ist das Gleiche mit der Landwirtschaft. Einmal haben Sie eine schlechte Ernte, dann wieder eine gute! Schauen Sie mich doch nicht an, als lebte ich auf einem anderen Planeten! Die meisten Leute würden das verstehen!
Ich denke schon, dass ich das verstehe.
Dann tun Sie doch nicht so, als würden Sie das nicht begreifen! Sie haben doch keine Ahnung vom Bergbau!
Deswegen frage ich Sie.
Dann fragen Sie weiter.
Warum kam es zum Brexit?
Ich habe das Wort «Brexit» nie benutzt. Die Zeitungen haben das eingeführt, weil die Tories es ihnen vorgeplappert haben.
Was sagen Sie stattdessen?
«Stay» oder «Leave».
Aber Sie waren für den Austritt?
Ja, ich habe gegen jeden europäischen Vertrag gestimmt, seit ich hier im Parlament bin. Es gab nicht einmal ein europäisches Parlament, als das alles begann. Aber auch jetzt ist das EU-Parlament nur Fassade. Dass ich gegen die EU bin, hat gar nichts mit Einwanderung zu tun!
Zumindest einige Ihrer Wähler dürften die Personenfreizügigkeit aber als Problem empfinden.
Sie sprechen mit mir und nicht mit Boris Johnson. Das ist Dennis Skinner! Und ich sage Ihnen, warum ich so gestimmt habe, wie das 1971 noch fast alle Labour-Abgeordneten getan haben. Haben Sie das vergessen?!
Aber warum gab es eine Mehrheit für den Brexit? Das hatte doch sicher auch mit Einwanderung zu tun.
Ich rede nicht von Brexit. Sind Sie ein Tory?! Ich habe mit diesen Leuten nie zusammengearbeitet! Den Tories und Ukip ging es um Einwanderung. Verstehen Sie das nicht?! Sie sind hierhergekommen und tun schwierig!
Mögen Sie Jeremy Corbyn?
Ich kenne ihn, seit er ins Parlament gewählt wurde. Er wurde unter den Regeln der Labour-Partei mit grosser Mehrheit zu deren Vorsitzendem gewählt und mit einer noch grösseren Mehrheit wiedergewählt.
Aber kann er jemals eine Mehrheit in einer Parlamentswahl gewinnen?
Ich wäre optimistischer, wenn ihm die Labour-Fraktion eine faire Chance geben würde. Verstehen Sie das?!
Sie meinen also, seine Parteikollegen schaden ihm bewusst?
Einige von ihnen, ja.
Sind Sie einsam in Ihrer Fraktion?
Nein, ich tue, was ich tun muss.
Aber Sie achten schon auf Distanz?
Ich?
Es heisst, Sie mieden die Bars hier im Palast von Westminster.
Das hat damit nichts zu tun. Ich kenne auch andere Leute, die nicht in die Bars gehen. Glauben Sie, jeder hier ginge in die Bars?! Ich denke, Sie sind ziemlich komisch! Warum stellen Sie solche unpolitischen Fragen?!
Sie sind ja nicht nur Politiker.
Offen gesagt, ich glaube, Sie führen etwas im Schilde.
Warum sollte ich Ihnen schaden wollen? Ich schreibe ja nicht einmal für eine britische Zeitung.
Ach, jetzt fangen Sie mit diesem Spiel an. Sie sind ein Ausländer, also verstehen Sie mich nicht richtig.
Nein, aber warum sollte ein ausländischer Journalist Ihnen Böses wollen?
Ich weiss es nicht, aber Sie stellen mir sehr seltsame Fragen.
Wenn Labour wieder an die Macht kommt, was sollte die Partei dann tun?
Ich würde eine Spekulationssteuer einführen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sich die Parteiführung mit dieser Idee bereits angefreundet hat.
Sie mögen diese Frage seltsam finden, aber haben Sie einen Sinn für Humor?
Ich?
Ja, Sie.
Wenn es die Situation zulässt. Einen Sinn für Humor zu haben, bedeutet, seine Vorstellungskraft spielen zu lassen. Es gibt eine Zeit zum Lachen und eine Zeit zum Weinen. Und es gibt eine Zeit, um nachzudenken.
Worüber lachen Sie?
Lachen kann nicht künstlich erzeugt werden. Nein. Es ist wie Glück. Manchmal wissen Sie gar nicht, dass Sie glücklich waren, bevor Sie traurig wurden. So ist das Leben. Sie können Glück nicht schaffen, auch wenn einige Politiker das wollen. Sie können vielleicht ein paar Leute glücklich machen, wenn Sie sich etwa entscheiden, die Taschen der Spekulanten in der City zu füllen. Aber damit machen Sie andere traurig. Ich meine, wenn Sie zu einem Fussballmatch gehen und Ihr Team gewinnt, dann sind Sie glücklich! Und ein anderer ist traurig.
Sind Sie Fussballfan?
Ich benutze das nur als Beispiel! Verstehen Sie das denn nicht?!
Doch, aber es interessiert mich trotzdem, ob Sie Fussballfan sind.
Wenn Sie mich fragen, ob ich am Samstagnachmittag ins Stadion gehe, lautet meine Antwort nein. Dafür habe ich keine Zeit, ich muss mich um meinen Wahlkreis kümmern.
Sie sagten, Politiker könnten Glück nicht schaffen, aber es muss doch Ihr Ziel als Politiker sein, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.
Ja, wir können dafür sorgen, dass sich die Leute besser fühlen. Aber wenn ein Banker hundertmal mehr bekommt als ein normaler Arbeiter, dann brauchen Sie eine Spekulationssteuer, um dem Arbeiter etwas mehr geben zu können. Das freut den einen und macht den anderen traurig. Das ist alles, was ich gesagt habe.
Was macht Sie glücklich?
Wenn ich meine Enkel sehe.
Hat es die Generation Ihrer Enkel schwerer als die Ihrer Kinder?
Meine Enkel wachsen sicher nicht so ärmlich auf wie wir während des Krieges. Ich hatte neun Geschwister, wir hatten nichts. Wovon reden Sie?!
Ich glaube, Sie haben mich falsch verstanden. Ich habe nicht Ihre Generation mit der Ihrer Enkel vergleichen, sondern die Ihrer Kinder mit der Ihrer Enkel.
Schwierigere Bedingungen!? Hören Sie, als ich jung war, herrschte Massenarbeitslosigkeit!
«Da ist die Tür! Ich denke, Sie sollten jetzt endlich von hier abhauen!»
Für die Generation Ihrer Kinder ging es doch immer bergauf. Sie gingen zur Universität und wussten, dass sie einen Job bekommen würden. Sie konnten Pläne machen. Diese Sicherheit hatten Sie nicht, aber die heutige Jugend hat sie auch nicht mehr.
Jetzt sage ich Ihnen mal etwas: Mein Spielplatz war ein Bergwerk. Und Sie behaupten, mir sei es besser gegangen als meinen Enkeln, die Computer und Spielzeug haben?!
Nein, das habe ich nicht behauptet. Wie alt sind Ihre Kinder?
In Ihren Vierzigern und Fünfzigern.
Und Ihre Enkel?
Die sind Teenager. Und ich denke, sie haben ein besseres Leben als ich!
Aber haben Ihre Enkel auch bessere Perspektiven als Ihre Kinder?
Darüber kann man streiten.
Sind Sie ein Optimist?
Ja.
Und warum?
Weil ich immer Pläne für die Zukunft mache. Sie verstehen das natürlich nicht. Sie kommen hier herein und fallen über mich her! Sie haben mir eine gefährliche Falle gestellt!
Sie sind ja paranoid.
Ich hatte noch nie ein Gespräch wie dieses! Von Anfang an haben Sie nicht einmal den Unterschied zwischen einem Bergwerk und einer Fabrik verstanden. Verschwinden Sie, gehen Sie Ihrer Wege! Ich muss jetzt zur Fragestunde der Premierministerin! (Steht auf und geht zur Tür …)
Viel Spass!
(… bleibt stehen, dreht sich herum.) Viel Spass?! Sie sind ja nicht ganz bei Trost! Wovon reden Sie?!
Haben Sie denn niemals Freude an Ihrem Beruf?
Ganz sicher habe ich keine Freude an diesem Gespräch! Da ist die Tür! Ich denke, Sie sollten jetzt endlich von hier abhauen!
Das geht Sie gar nichts an. Wir sind hier nicht bei Ihnen zu Hause. Bye!
(Im Hinausgehen) Bye-bye!
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