
Das gibt es hier selten: ein neues Bauwerk, das den Betrachter beim ersten Anblick in seinen Bann zieht und ihn nicht mehr loslässt. Ein Gefühl, das im Ansatz vielleicht vergleichbar ist mit jenem eines frisch Verliebten, der gerade Hals über Kopf jemandem verfallen ist. Diese Gefahr ist in der Stadt Zürich nicht besonders gross – was die Häuser angeht natürlich. Zwar werden hier zurzeit so viele grosse Neubauten hochgezogen wie schon lange nicht mehr, aber die meisten sehen identisch aus: wie überdimensionierte Schuhschachteln mit regelmässig eingestanzten, rechteckigen Fensteröffnungen.
Patrick Gmür, Direktor des Amts für Städtebau, hat diesen architektonischen Trend jüngst bedauert: «Er birgt die Gefahr, dass die Bauten monoton und wie Klone wirken.» Oder anders gesagt: Sie sind vielleicht solid und zweckmässig, aber nichts, wofür man eine Leidenschaft entwickeln könnte. Das ist bedauerlich, weil sie das Stadtbild auf Jahrzehnte hinaus prägen werden. Will heissen: Wir werden uns noch sehr lange langweilen.
«Es besteht die Gefahr, dass die Bauten monoton und wie Klone wirken.»
Deshalb ist der Erweiterungsbau des Landesmuseums auf dem Platzspitz eine ausnehmend positive Überraschung. Man hat ja gewusst, dass dort etwas Ungewöhnliches entsteht. Aber erst jetzt, wo die Gerüste entfernt und die Hüllen gefallen sind, wird offensichtlich, wie erfrischend der Entwurf der Basler Architekten Christ & Gantenbein für diese Stadt wirklich ist. Hier wurde etwas gewagt – das allein ist schon bemerkenswert. Noch bemerkenswerter ist aber, dass es die mehrheitlich konservative kantonale Stimmbevölkerung war, die an der Urne die Offenheit und den Mut aufbrachte, so etwas Unverschämtes neben das historisierende Museumsschlösschen zu stellen.
Man könnte erschrecken
Es ist in Zürich ja nicht so, dass es nur die privaten Immobilienunternehmer wären, die mit ihrem ökonomisch motivierten Hang zur maximalen Ausnutzung immer teurer werdender Grundstücke ins Schema F verfallen. Auch die öffentliche Hand hat als Bauherrin in jüngerer Vergangenheit nur selten etwas zustande gebracht, was sich vom architektonischen Hintergrundrauschen der Stadt abgehoben hätte. In Zeiten knapper Budgets haben es unorthodoxe Bauten schwer beim Souverän. Sie stehen im Ruf, sich zu unkontrollierbaren Finanzabenteuern auszuwachsen, und das nicht ganz zu Unrecht. Die Hamburger Elbphilharmonie lässt aus der Ferne grüssen. Beim Landesmuseum jedoch wurde der Kostenrahmen eingehalten: 111 Millionen Franken, Sanierung des alten Kunstgewerbeflügels inbegriffen.
Nun ist ein mutiges Gebäude noch kein gutes, ist gewagt nicht gewonnen. Und wer vom Hauptbahnhof her erstmals um den Erweiterungsbau herumgeht, könnte tatsächlich erschrecken. Auf dieser Seite ragt er in einer betonstarrenden Monumentalität abweisend in den Himmel, dass einem schwindlig wird. Sobald man aber den Platzspitz erreicht hat, passiert etwas Wundersames: Was eben noch sperrig, streng und schwer wirkte, gerät hier in Bewegung, wird verspielt – und ist darin der kindlichen Schlösschenfantasie von Gustav Gull aus dem 19. Jahrhundert gar nicht unähnlich. War der Stil der Wahl damals Neo-Gothik, ist es jetzt ein an die Sechziger erinnernder Neo-Brutalismus, der mindestens so retro wirkt. Es ist die Fortsetzung der gleichen Erzählung in einer ganz anderen Sprache. Das passt.
Einen wesentlichen Unterschied gibt es allerdings. Ist der alte Teil vor allem Fassade, so ist der neue das Gegenteil: Seine Aussenhaut ist verschlossen und karg, sodass die Neugier sich automatisch auf die Geheimnisse konzentriert, die sich hinter den wenigen Bullaugen im Inneren verbergen. Etwas Besseres könnte einem Museum kaum passieren.
Was ist schön? Wie gut wird in Zürich gebaut? Zur grossen Umfrage geht es hier.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch
Unverschämt schön
Der Neubau beim Landesmuseum ist ein Koloss, ein richtiger Betonriegel. Er ist gleichzeitig sperrig, streng, schwer und verspielt. Und vor allem: eine Bereicherung.