«Unmündigkeit wird sozial erworben»
Atheismus-Serie: Michael Schmidt-Salomon gehört zu den prominentesten Kritikern der Religionen. Im Interview verrät er, warum sich der Konflikt zwischen Freidenkern und Gläubigen verschärft.

Alain de Botton ist bekennender Atheist. Im Gegensatz zu radikaleren Freidenkern befürwortet er die Religion als sinnstiftende Kultur (Artikel zum Thema: Orgien für Ungläubige). Ist diese Haltung politisch vertretbar oder impliziert «Religion» immer auch ein dogmatisches Glaubenssystem? Das steht nicht grundsätzlich im Widerspruch zu meinen Auffassungen. Ich habe stets betont, dass die Religionen kulturelle Schatzkammern der Menschheit sind, in denen man Vernünftiges und Menschenfreundliches, aber eben auch Widersinniges und Menschenverachtendes findet. Die entscheidende Frage ist, wie wir heute mit diesem ambivalenten Kulturerbe umgehen. Die Religionen haben hier das Problem, dass sie überkommene Glaubenssätze nicht einfach aufgeben, sondern allenfalls exegetisch umdeuten können. In der Philosophie haben wir diese Hemmungen nicht. Wir können falsche Ideen sterben lassen, bevor Menschen für falsche Ideen sterben müssen – und das macht es sehr viel einfacher, das kulturelle Erbe der Religionen anzutreten: Wir können aus diesen Traditionen das übernehmen, was sinnvoll ist, und das verwerfen, was schlichtweg nicht mehr in unsere Zeit gehört.