Ultimative Freiheit oder Dauerstress?
Das digitale Nomadentum wird als Arbeitstrend gefeiert. Aber für wen funktioniert das?
Die Geschichte könnte am weissen Sandstrand von Gili Meno, Indonesien, beginnen, in einem hübschen Holzbungalow mit Internetverbindung. Eigentlich beginnt sie aber früher, in einer WG im grauen Hamburg, wo sich Tanja Finke neben ihrem Vollzeitjob eine Existenz als virtuelle Assistentin aufbaute. Übers Internet suchte sie sich Aufträge, schrieb und korrigierte Bewerbungen, machte Übersetzungen, transkribierte Texte.
Das Ziel: So viel zu verdienen, dass sie kündigen, ins Ausland ziehen und von dort aus arbeiten kann. «Ich wollte immer raus aus Deutschland, hatte schon als Kind Fernweh», sagt sie. Als Personaldisponentin bei einer Zeitarbeitsfirma hat sie den Arbeitsmarkt von seiner hässlichen Seite kennengelernt. Mindestlohn, befristete Beschäftigung, teilweise musste sie den Leuten schon nach zwei Wochen wieder kündigen. «Manche sassen weinend vor mir, und ich konnte ihnen nicht helfen», erzählt Finke. Sieben Monate hat sie durchgearbeitet, bis sie als virtuelle Assistentin einigermassen stabil dastand. Sie löste ihre Wohnung auf – und weg war sie.

Auf ihrer Website präsentiert sie sich seriös, edle Bluse, Make-up, gerader Rücken. Tatsächlich besteht ihre Arbeitsgarderobe aus Trägertop, Shorts und Flipflops. Ihre einzigen geschlossenen Schuhe sind inzwischen kaputt, sie hat sich keine neuen besorgt. Braucht sie auch nicht – hier, am Strand von Gili Meno. Tanja Finke ist jetzt Digitalnomadin, sie kann von überall aus arbeiten, solange sie eine Internetverbindung hat.
Firmen passen sich an
Um das Phänomen gibt es gerade einen mächtigen Hype, weil es alle Trends der Arbeitswelt im Extrem vereint: wachsende Digitalisierung, Mobilität und Flexibilität, Selbstverwirklichung. Laut einer Studie des Zukunftsinstituts in Frankfurt ist Selbstbestimmung für 20- bis 35-Jährige das höchste Ziel, gefolgt davon, das Leben zu geniessen. Dafür sind sie auch bereit, anderes aufzugeben: Sicherheit genauso wie gutes Einkommen.
Unternehmen, die an eben jenen Millennials interessiert sind, versuchen, sich auf deren Bedürfnisse einzustellen. Bei Automattic, dem Mutterkonzern des Blog- und Websiten-Anbieters WordPress, sind die 550 Mitarbeiter über den ganzen Globus verstreut, bei Mozilla, der gemeinnützigen Organisation, die den Firefox-Browser anbietet, wählen immerhin 60 Prozent ihre Arbeitsumgebung selbst. Sogar das Wirtschaftsministerium setzt sich für orts- und zeitunabhängigeres Arbeiten ein, wie Bundesministerin Andrea Nahles vergangenes Jahr nach dem Gipfel «Digitale Arbeitswelt» verkündete. Wobei sie wohl eher an Gleitzeit und Homeoffice dachte als an Coworking in Thailand. Viele Länder, vor allem in Südostasien oder Südamerika, haben sich hingegen speziell auf die «Touristen» mit ihren Laptops eingestellt und Glasfaserkabel verlegt, Shared Offices schiessen aus dem Boden. Südkorea und Chile locken mit Fördergeldern gezielt Start-ups an.
Ziel: Die 4-Stunden-Woche
Viele Frauen haben in diesem Umfeld ein Geschäftsfeld für sich entdeckt: Die Autorin Carina Herrmann gründete einen virtuellen Coworking-Space für Frauen, Marinela Potor betreibt erfolgreich das Mobility Mag, ein Onlinemagazin rund ums Thema Mobilität, Katja Andes organisiert mit Sunny Office mehrwöchige Coworking-Events.
Teil der Lebensphilosophie ist nicht nur, die Welt kennenzulernen, sondern ebenso die Idee eines flexiblen Unternehmertums: gründen, wachsen, andere miteinbeziehen. Und wenn das Unternehmen läuft, fast gar nicht mehr zu arbeiten, ganz nach Timothy Ferriss' Beststeller «The 4-Hour Workweek». Darin beschreibt der Autor, wie er sein Geschäft mit Nahrungsergänzungsmitteln langsam zu einem Selbstläufer machte, auch, indem er viele Aufgaben an andere abgab. Kapital anhäufen, das Geld – und andere Menschen – für sich arbeiten lassen, das ist eine zutiefst kapitalistische Idee, die nichts mit dem Hippieklischee des Aussteigertums zu tun hat. Die Mehrheit ist davon noch weit entfernt, die meisten stellen als Solo-Selbstständige ihre Arbeitszeit gegen Honorar zur Verfügung – auch denen, die auf ihrem Weg zur 4-Stunden-Woche schon weiter sind.
«Das würde ich heute anders machen»
Wie so viele gründete Michelle Retzlaff ihr Unternehmen ursprünglich nur, um sich ihren Traum vom Unterwegssein zu finanzieren. Inzwischen ist ihr ihre Firma wichtiger, dass sie reisen kann, nur noch ein Bonus. Der Weg dahin war schwer. «Die Vorstellung, selbstständig zu sein, hat mir erst mal richtig Angst gemacht», erzählt sie. Die Software-Entwicklerin wollte angestellt bleiben, ihr Arbeitgeber sah im Arbeiten von unterwegs allerdings keine Option. Also kündigte sie Anfang 2015. Ohne konkrete Idee, wie es weitergehen sollte, nur mit einem Blog, von dem sie aber nicht leben konnte. «Ich hatte keinen Businessplan, ich habe einfach ins Blaue hineingearbeitet, ohne zu wissen, ob je was draus wird», sagt sie, «das würde ich heute nicht mehr so machen.»

Unterwegs startete sie einen Support-Service für WordPress-Webseiten, das Geschäftsmodell änderte sie in den ersten Monaten mehrmals. Sie hätte aufgegeben, hätte sie nicht unbedingt an der Idee vom Nomadentum festhalten wollen. Also biss sie sich durch. «Es hat sich gelohnt», sagt sie. «Ich kann jetzt viel besser mit der Verantwortung umgehen, die Herausforderung macht mir Spass.» Sie hat nun einen Geschäftspartner und zwei Mitarbeiter, alle mobile Freiberufler, nur einen kennt Retzlaff persönlich. Jetzt möchte sie sich langsam aus dem Tagesgeschäft zurückziehen und ihre Arbeitszeit reduzieren. «Ich habe eine Regel: am Sonntag nie vor 14 Uhr anfangen.» Arbeiten am Wochenende? Nach der vielbeschworenen 4-Stunden-Woche hört sich das nicht an, im Gegenteil: Momentan arbeite sie mehr als in Festanstellung, «aber es fühlt sich besser an, weil Leben und Arbeiten untrennbar miteinander verknüpft sind».
«Zusätzlicher Stress»
Für andere ist genau das der Albtraum. «Es wünschen sich nicht alle mehr Flexibilität und Verantwortung», sagt Annabelle Krause vom deutschen Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit. Arbeitspsychologische Studien zeigen, dass viele Menschen feste Strukturen und den sozialen Austausch mit Kollegen brauchen. «Mobiles Arbeiten fordert zudem ein hohes Mass an Selbstorganisation, Disziplin und Koordination von Beruf und Privatem. Viele empfinden das als zusätzlichen Stress», sagt Krause.
Deswegen glaubt sie, dass die Zahl derer, die völlig orts- und zeitungebunden arbeiten, zwar noch steigen werde, aber nur in Massen. Und ohnehin gibt es zwischen der Fremdbestimmung einer Stechuhr im Grosskonzern und dem Laptop im Handgepäck schliesslich noch zig Abstufungen; vom selbstbestimmten Pendeln zwischen Zweitwohnsitz und Firma über geteilte Stellen bis hin zu projektbezogenem Arbeiten für wechselnde Auftraggeber. Es muss nicht gleich Indonesien sein, und Freiheit ist etwas Subjektives. «Das ist eine Typfrage. Und oft eine Lebensphase, die meisten Digitalnomaden sind jung, bei der Familiengründung ändern sich die Prioritäten häufig», sagt Krause.
Was ist mit AHV etc.?
Und selbst wenn nicht: Der Wunsch, einem festgefahrenen, ausbeuterischen Arbeitsmarkt zu entkommen, lässt sich vor allem langfristig nicht für alle erfüllen. Viele hangeln sich von Auftrag zu Auftrag. Der Markt für billige Projektarbeit wächst, Unternehmen lagern aus und vergeben einzelne Aufträge an Selbstständige, Plattformen wie Upwork oder Clickworker vermitteln. Crowdworking nennt sich das oder Gig-Economy. Dazu gehören virtuelle Assistenten, Selbstständige, die für Firmen oder Einzelpersonen die Buchhaltung oder Terminplanung übernehmen.

Die Honorare sind oft unverschämt niedrig, für eine Hütte in Südostasien reicht es, für ein Flugticket nach Hause, Rücklagen oder eine Altersvorsorge eher nicht. Aber wie ausgereift ist ein Arbeitskonzept, das nur kurzfristig, ohne Notlandungen wie Krankheit oder das Ziel einer gesicherten Pension funktioniert? Während Crowdworking und Co. auch im klassischen ortsgebundenen Arbeitsumfeld grassieren, schwindet der Beigeschmack der Ausbeutung offenbar mit der Distanz zum Heimatort. Für den Traum des Weltenbummelns wird viel akzeptiert.
Auch Tanja Finke hat als virtuelle Assistentin und somit unter ihrer Qualifikation angefangen. «Dass ich in meinem eigentlichen Beruf weiterarbeiten kann, ohne meine Idee von der Selbstbestimmung aufzugeben, habe ich erst später kapiert», sagt sie. Jetzt ist sie wieder im Personalwesen, managt für Firmen Bewerbungsprozesse, schreibt Stellen aus, führt Vorgespräche. Die Kandidaten merken nicht, ob sie in Indonesien oder in der Firmenzentrale sitzt. «Wenn ich mit ihnen telefoniere, sage ich das oft nicht dazu», erzählt sie. «Manche sind da konservativ und finden das unseriös.» Wenn sie ein Videogespräch führt, tauscht sie ihr Trägertop gegen eine Bluse.

Als Tanja Finke Deutschland verliess, meldete sie ihren Wohnsitz ab, Umzug ins unbekannte Ausland, jetzt ist sie als Touristin unterwegs. Finkes Unternehmen sitzt in Wyoming, steuerfrei, solange sie kein Einkommen in den USA hat. Ein schlauer Schachzug, den viele Nomaden wählen – der das Prinzip eines Sozialstaats (welches Landes auch immer) aber ad absurdum führt. Schliesslich nutzen auch die Nomaden die von den Steuern der Einheimischen bezahlte Infrastruktur. Und viele asiatische Länder stehen gerade vor der Frage, wie Urlaubs- und Arbeitsvisa zukünftig zu trennen sind. Lässt sich wirklich rechtfertigen, sich mit einer Firma aus jedwedem System heraus zuziehen, nur weil das Unternehmen keinen festen Standort hat?
Im gesamtgesellschaftlichen Kontext kann die Antwort nur Nein lauten, auf der persönlichen Ebene ist die Rechnung hingegen überzeugend: Finkes Auslandskrankenversicherung kostet 900 Euro im Jahr. Für zehn Euro im Monat hat sie eine Hamburger Nummer, die zu ihr weitergeleitet wird. Ihre Post lässt sie an ein Berliner Unternehmen schicken, das sie für sie einscannt. Für den hübschen Holzbungalow zahlt sie 150 Euro Miete. Da sind die 2000 Euro im Monat, die sie momentan mindestens verdient, kein schlechtes Einkommen. Um ihre Altersvorsorge mache sie sich gerade keine Gedanken, sagt sie.
Steuern sparen als Nebeneffekt
Auch Michelle Retzlaff ist derzeit staatenlos und spart sich somit die Einkommenssteuer. Unternehmenssteuer zahlt sie in Estland, wo ihre Firma seit Kurzem sitzt. Als erstes Land bietet es seit 2014 eine e-Residency, eine virtuelle Niederlassung, die es ermöglicht, ein Unternehmen zu gründen und ein Konto zu eröffnen. Anmeldung natürlich online. «Ich mache das nicht, um Geld zu sparen, sondern weil es unbürokratischer ist», sagt sie.
Von organisatorischen Herausforderungen abgesehen, bedingt das Konzept des Nomadentums aber auch, dass der Mensch nicht mehr vom Businessmenschen zu trennen ist. Wenn die Arbeit zur Reise wird, reist das Private zwangsläufig mit – oder eben nicht. Was Michelle Retzlaff wirklich vermisst, sind tiefergehende Freundschaften. Über die Ferne den Kontakt aufrechtzuhalten, fällt ihr schwer, gute Freunde unterwegs zu finden, ist fast unmöglich. «Ich hänge vor allem mit anderen Ortsungebundenen ab, das ist nett, aber sehr oberflächlich. Es sind immer dieselben Themen, du fängst immer wieder bei null an.»
Blieb früher kurz vor dem Studium gerade mal Zeit für Au-pair in Frankreich oder Obstpflücken in Australien, ermöglichen die flexiblen Arbeitsbedingungen nun auch den nächsten Karriereschritt von unterwegs. Das ist positiv und bereichernd. Trotzdem, sagt Soziaforscherin Annabelle Krause, werden sich auch in Sachen Mobilität die Bedürfnisse der Menschen nicht radikal ändern. Schon gar nicht jene Grundbedürfnisse, die aufgrund eines dauerhaften Nomadendaseins zurückstecken müssen. Der Wunsch nach Stabilität, zwischenmenschlichen Beziehungen oder der Fortpflanzung zum Beispiel.
Einige werden dauerhaft unterwegs sein, mit oder ohne Familie, andere fangen erst später damit an, wenn die Kinder älter sind. Mehrheitlich wird das digitale Nomadentum aber in der Lebensphase von Anfang 20 bis Mitte 30 verankert bleiben. Deswegen wird der vielbeschworene Hype keine Umwälzung in grossem Stil bewirken. Die Arbeitswelt wird er trotzdem nachhaltig beeinflussen, weil er alle, auch Ortsgebundene, darin bestärkt, ihr eigenes Arbeitsmodell zu hinterfragen und aktiver zu gestalten. Weil er Arbeitgeber weiter unter Druck setzt, Alternativen zum «9 to 5» anzubieten. Und das ist gut.
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