Sissacher Kulturhaus CheesmeyerUkraine-Krieg im Fokus des Gesprächs
Im Raum stand die Frage, wie es zum Krieg in der Ukraine kommen konnte und damit indirekt auch, ob dieser Krieg hätte vermieden werden können. Eine weitere Folge der Gesprächsreihe.

Es war ein heisses Eisen, das der emeritierte Soziologieprofessor Ueli Mäder in seiner Gesprächsreihe «Für eine friedliche Zukunft» anfasste. Der Ukrainekonflikt stand zur Diskussion, vor allem aber wollte Mäder wissen, was dazu geführt habe und welche Mitverantwortung der Westen trage. Die Fragen gingen an Benjamin Schenk, Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. Ein Historiker, der emotional mitging, rhetorisch überzeugte, der aber auch ein paar Unschärfen offenbarte. 100 Neugierige kamen nach Sissach ins Kulturhaus Cheesmeyer.
Einig war man sich im Raum, dass der Einmarsch Russlands in die Ukraine einen Bruch des Völkerrechts darstelle. Darüber hinaus gingen die Ansichten jedoch auseinander. Vom unbedingt zu realisierenden Sieg über Russland war die Rede genauso wie von verpassten Chancen auf eine Lösung am Verhandlungstisch. Erstaunlich oft in den Fokus geriet dabei die Nato.
Die Osterweiterung
Ob das nicht eingehaltene Versprechen, nach Deutschlands Wiedervereinigung die Nato nicht nach Osten auszudehnen, ein Faktor für den heutigen Krieg sei, wollte Mäder wissen. «Dass es diese Gespräche 1990 gegeben hat, ist unstrittig», antwortete Schenk, «es wurde aber nie irgendetwas schriftlich fixiert.» Die historische Situation sei eine spezielle gewesen. Als 1990 über die Wiedervereinigung verhandelt wurde, habe die Sowjetunion noch existiert. Als sie sich 1991 auflöste, hätte sich daraus eine «komplett neue» internationale Situation ergeben. Es sei in den damaligen Verhandlungen nur um das deutsche Territorium gegangen. «Diese Vereinbarung wurde bis heute eingehalten», sagte Benjamin Schenk, «bis heute gibt es keine Nato-Truppen auf dem Gebiet der neuen Bundesländer.»
Ueli Mäder fragte nach dem «Wie weiter?». Man habe es mit Zusammenarbeit versucht, mit den Verträgen Minsk I und Minsk II, auch habe man mit der Nato-Osterweiterung eine Drohgebärde aufgebaut. Nichts habe Wirkung gezeigt. Schliesslich fragte Mäder: «Müssen wir erst siegen, ehe wir verhandeln können?»
«Diese Lesart erinnert sehr stark an ein russisches Narrativ», entgegnete Benjamin Schenk, «dieser Krieg begann bereits 2014 mit der Annexion der Krim und dem verdeckten Krieg Russlands im Donbass.» Am 24. Februar habe Russland planmässig eine neue Eskalationsstufe gewagt, «weil es die Nato als äusserst verletzlich, schwach und desintegriert wahrgenommen hat». Und Schenk appellierte an das Publikum, Wladimir Putins Reden zu lesen, einsehbar auf der Website der Präsidialadministration Russlands. Diese Reden zeigten das politische Programm. Russland sehe sich nicht im Krieg mit der Ukraine, sondern mit dem kollektiven Westen.
Spuren des Krieges
Wladimir Putin habe Russland stabilisiert, doch «zum Preis eines aggressiven neuen russischen Nationalismus’». Er führe das Land in einem permanenten Kriegsmodus. Seit Putin sich an der Macht befinde, sei Russland permanent im Kriegszustand. «Das führt zu innerem Zusammenhalt.» Begonnen habe es mit dem Ersten Tschetschenienkrieg; weiter sei es mit dem Zweiten Tschetschenienkrieg gegangen. In diesem Punkt täuscht sich Benjamin Schenk. Der Erste Tschetschenienkrieg ging auf das Konto von Boris Jelzin.
Professor Schenk kritisierte scharf, dass die russische Armee die ukrainische Infrastruktur beschiesst. «Einer Zivilbevölkerung das Wasser abzuschneiden, die Elektrizität und die Wärme abzuschneiden, bedeutet diese Menschen erfrieren zu lassen – nichts weniger», empörte sich Schenk. Dabei übersah er, dass es sich dabei um kein – natürlich brutales – Alleinstellungsmerkmal des Ukrainekriegs handelt. Im Gegenteil ist dieses Vorgehen ein typischer Teil kriegerischen Repertoires.
Während des Kosovokrieges, am 3. Mai 1999, sagte Nato-Pressesprecher Jamie Shea an einer Pressekonferenz: «Die Tatsache, dass in 70 Prozent des Landes die Lichter ausgingen, zeigt meines Erachtens, dass die Nato jetzt den Finger auf dem Lichtschalter in Jugoslawien hat und wir den Strom abschalten können, wann immer wir müssen und wann immer wir wollen.» Es lag nun an Serbiens Staatspräsident Slobodan Milošević zu entscheiden, wie er seine verbleibenden Energieressourcen nutzen wollte - für seine Panzer oder für seine Bevölkerung.
Entweder man deklariere das Geschehen in der Ukraine es als «genozidalen» Krieg, äusserte Benjamin Schenk, oder man fordere die betroffenen Menschen indirekt auf, ihre Koffer zu packen und beispielsweise nach Basel zu fliehen. Mit dem Resultat, «dass sie unsere Gesellschaften vor die Herausforderung stellen, mit diesem Flüchtlingsproblem umzugehen».
Die Rolle von Boris Johnson
Aus dem Publikum kamen Fragen und Anmerkungen. Eine Stimme stellte die Frage: «Wer sind die eigentlichen Kriegsparteien?» Er stelle diese Frage, weil Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im März zu einem «Ergebnis» gekommen seien. Dann sei der britische Premierminister Boris Johnson nach Kiew geflogen und «hat Selenski erklärt, dass er gar nichts zu verhandeln habe, denn der Westen sei noch nicht bereit für den Frieden». Als Schenk in einem Aufwisch mehrere Fragen beantwortete, liess er diese Frage aussen vor. Im Gespräch zuvor hatte er jedoch geantwortet: «Ich weiss gar nicht, über was verhandelt werden soll. Das erklärte russische Kriegsziel ist, die Ukraine als eigenständige Nation zu vernichten.»
Für einen Gast mit russischen Wurzeln kam es zu diesem Krieg, weil auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und in ihrer Nachbarschaft immer wieder Grenzen versetzt worden seien. Etwa nach dem Zweiten Weltkrieg von Russland, den USA, Grossbritannien und Frankreich. Eine These, die kein grosses Echo fand.
Schliesslich fragte Marc Joset, Präsident des Vereins Friedensbrugg, der in der Ukraine hilft: «Hat es die Ukraine verpasst, den russisch orientierten Gebieten vor dem Krieg mehr kulturelle, sprachliche und politische Autonomie zu geben?» In dieser Frage schwanke er hin und her, sagte Benjamin Schenk. Russland untergrabe die Souveränität der Ukraine.
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