Reisen ans WattenmeerTraumziel Ostfriesland: Vier Einheimische erzählen
Sonne, Wind und Meer – wer an der Nordsee lebt, liebt das Spiel der Elemente. Vier Frauen und Männer, die auf den Inseln und an der Küste arbeiten, erzählen von ihrer Leidenschaft.

Filiz Solak, Tierpflegerin, Norddeich

Sie ist erst 21 Jahre alt, betreut aber eine halbe Hundertschaft Babys. Filiz Solak muss alle satt kriegen. Schnapp! Schon ist ein Hering im Maul des kleinen Heulers verschwunden.
Es ist Essenszeit in der Seehundstation in Norddeich, dem Ort, wo viele Fähren zu den Ostfriesischen Inseln ablegen. Die Tierpflegerin geht mit Gummistiefeln und einem mit Fischen gefüllten Eimer zu den verschiedenen Wasserbecken, aus denen neugierige Knopfaugen lugen. Es sind Jungtiere, die ihre Mütter in der Nordsee verloren haben und die ohne menschliche Hilfe elendiglich verhungern müssten.
Vor 51 Jahren wurde der Verein zur Erforschung & Erhaltung des Seehundes e.V. gegründet, dessen Mitglieder an der niedersächsischen Küste die kleinen Robben im Frühsommer aufsammeln – pro Jahr sind das 120 bis 150 Tiere. Sie bleiben in der Seehundstation, bis sie in der Lage sind, allein im Wattenmeer zu überleben.
Frodo, Max oder Flocke – alle Heuler bekommen hier einen Namen, und Filiz Solak muss sie später auch wieder in die Nordsee zurückbringen.
Der Abschied fällt nicht immer leicht, aber die Freude ist gross, wenn die «Kleinen» sich übermütig ins Wasser schmeissen und in der Nordsee untertauchen.
Heike Horn, Bürgermeisterin, Langeoog

Es ist ein bisschen wie bei einem Spiessrutenlauf. Mit Heike Horn über die autofreie Hauptstrasse von Langeoog zu schlendern und sich dabei zu unterhalten, ist nicht immer einfach.
Jeder der 2000 Einwohner kennt die blonde Bürgermeisterin, die im November 2019 auf eine der sieben Ostfriesischen Inseln vor der deutschen Nordseeküste kam. Sie wird gegrüsst und oft auch gleich angesprochen: «Ich mag den direkten Kontakt zu den Menschen», sagt die gebürtige Mainzerin. So hört sie, was los ist auf der Insel, wo es nicht rundläuft oder was wieder mal richtig gelungen ist – und was überrascht.
Jährlich kommen eine Viertelmillion Touristen auf das Nordsee-Eiland, darunter viele Stammgäste. Vor allem bei Familien ist das offiziell anerkannte Nordseeheilbad mit den 14 Kilometer langen Sandstränden beliebt. Corona hatte den Ferienbetrieb ganz schön eingeschränkt. Nun holten sich auch noch schwere Sturmfluten Anfang des Jahres bis zu 600’000 Kubikmeter Sand der Strände.
Noch sind die scharfen Abbruchkanten zu sehen. «In diesem Sommer wird der Sand aber wieder aufgespült», verspricht die Wahlinsulanerin, die einst als Unternehmensberaterin weltweit tätig war.
Jan-Dirk Post, Strandbarbesitzer, Wangerooge

Draussen vor den grossen Fensterscheiben des Digger’s zieht die Nordsee mal wieder die grosse Show ab. Wolkengebirge türmen sich über den bleigrauen Wassermassen, die weiss schäumen, als würden sie kochen. Nur wenige Spaziergängerinnen verirren sich an diesem regnerischen Morgen auf die Promenade von Wangerooge. Dafür ist die Strandbar von Jan-Dirk Post um elf Uhr schon gut besucht.
Das war nicht immer so in den letzten zwei Jahren. Die Pandemie hatte auch diesen Gastrobetrieb stillgelegt. Umso mehr freuen sich die Inselbesucher und Jan-Dirk Post, dass man wieder zusammensitzen kann in der guten Stube, die mit allerlei Skurrilitäten ausgestattet ist.
Der 53-Jährige, der das Käppi immer verkehrt herum über dem gelockten Haar trägt, ist auf der Nordseeinsel gross geworden, zog dann weg, lernte Koch und kehrte nach beruflichen Stationen auf der halben Welt 1997 wieder zurück. Schon sein Urgrossvater hatte 1898 auf Wangerooge ein Kaffeehaus eröffnet. Die Strandbar hat Post vom Vater übernommen und das Digger’s daraus gemacht. «Es ist die Sunset-Strandbar Nummer 1 auf Wangerooge», sagt er nicht ohne Stolz.
Der In-Treff ist so etwas wie ein Lichtblick auf der Insel, deren Infrastruktur ganz schön in die Jahre gekommen ist.
Joke Pouliart, Natur-Ranger, Langeoog

Ein einziger Spatenstich, und schon liegt Joke Pouliart der ganze Kosmos des ostfriesischen Wattenmeeres in den Händen. Zusammen mit seinen Gästen ist der Natur-Ranger barfuss durch Salzwiesen gewandert, die sich allmählich in Schlickflächen verwandeln.
Nun tapst die Gruppe Schritt für Schritt vorwärts. «Ist halt der rutschige Meeresboden», erklärt der gebürtige Düsseldorfer. Auf der Oberfläche hat sich eine graubraune Schicht gebildet: Algen. Darunter ist der Boden tiefschwarz, durchzogen mit Rillen und voll mit faszinierendem Leben.
Was für eine Welt: Allein 70 Herzmuscheln und 70'000 Schnecken leben auf einem Quadratmeter Watt. «Der Treibstoff für die Zugvögel liegt hier», weiss der Mann mit dem auffälligen Ringelhut in Regenbogenfarben. «Die können damit 6000 Kilometer bis nach Westafrika fliegen – nonstop!»
Das deutsch-niederländische Wattenmeer ist weltweit einzigartig. Aufgenommen in die Liste des Unesco-Weltnaturerbes im Juni 2009, steht diese Naturlandschaft auf der gleichen Stufe wie das Great Barrier Reef vor Australien und der Grand Canyon in den USA. Das Schutzgebiet Wattenmeer ist mit mehr als 9500 Quadratkilometern auch eines der grössten Feuchtgebiete der Welt. Es bietet Lebensraum für 10'000 verschiedene Tiere, Pflanzen und Kleinstlebewesen.
wattwanderzentrum-ostfriesland.de
Die Reise wurde unterstützt von der Ostfriesische Inseln GmbH.
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