Tödlicher Stoss vor einen ICE: Was Experten sagen
Der Eritreer aus der Schweiz, der einen Buben in Frankfurt vor einen Zug gestossen hat, galt lange als Beispiel für gelungene Integration.
In Frankfurt ist ein achtjähriger Knabe vor einen einfahrenden Intercity-Express gestossen und getötet worden. Was bisher zur Bahnsteig-Attacke bekannt ist:
Die Tat
Als im Frankfurter Hauptbahnhof am Montagmorgen ein ICE einfährt, stösst ein Mann mit starrem Blick unvermittelt eine Frau und dann deren achtjährigen Sohn vor den Zug. Die 40-jährige Mutter kann sich im letzten Moment von den Gleisen retten, der Bub wird vom Zug erfasst und stirbt. Der Täter versucht danach auch noch eine 78-jährige Frau auf die Gleise zu stossen, dies aber erfolglos. Die Seniorin erleidet einen Schock und Verletzungen an der Schulter. Auch die 40-jährige Mutter erleidet einen schweren Schock, ist körperlich aber praktisch unverletzt.
Der Täter
Der Täter ist ein 40-jähriger Eritreer, der im Kanton Zürich wohnhaft ist, wie die Frankfurter Staatsanwaltschaft mitteilt. Der Mann ist verheiratet, hat drei Kinder und ist 2006 illegal in der Schweiz eingereist, wo er Asyl beantragte. Dies teilte das deutsche Bundesinnenministerium am Dienstagnachmittag mit. 2008 wurde sein Asylantrag bewilligt und er erhielt die Aufenthaltsbewilligung C. Er ging einer geregelten Arbeit nach. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer betonte, dass er in Publikationen als Beispielfall gelungener Integration präsentiert wurde.
Am 25. Juli fiel er in der Schweiz auf, weil er eine Nachbarin mit einem Messer massiv mit dem Tod bedroht hatte. In ihrer Wohnung hatte er sie gewürgt und er floh danach. Die Polizei schrieb ihn danach national zur Festnahme aus. Er war bereits davor in der Schweiz polizeilich auffällig, wie Dieter Romann, Präsident des Bundespolizeipräsidiums, ausführte.
Nach der Tat in Frankfurt versuchte er vom Bahnhof zu fliehen, wurde aber von einem Polizisten in zivil und weiteren Passanten festgehalten und kurz darauf festgenommen. Er war erst wenige Tage vor der Tat mit dem Zug von Basel nach Frankfurt gefahren. Wo er sich seither aufgehalten hat, ist aber nicht bekannt.
Am Dienstagnachmittag um 16 Uhr will die Kantonspolizei Zürich an einer Medienkonferenz über den Täter und den Vorfall in Frankfurt informieren.
Die Parallele
Der Tod des Achtjährigen sorgt für Entsetzen, auch weil sich neun Tage zuvor ein ähnlicher Fall ereignet hatte. In Voerde, rund 40 Kilometer nördlich von Düsseldorf, stiess ein 28-jähriger Mann eine 34-jährige Frau vor einen Zug – nach ersten polizeilichen Erkenntnissen völlig unvermittelt, ohne vorherigen Kontakt. Die Mutter einer 13-jährigen Tochter starb, der Täter ist in Haft. Ein Motiv ist bislang nicht bekannt. Der Verhaftete ist Serbe mit kosovarischer Herkunft und wurde in Deutschland geboren. Offenbar sollen bei ihm Kokainrückstände im Blut nachgewiesen worden sein. Der 28-jährige in Deutschland geborene Serbe war polizeilich bereits bekannt und in den Wochen zuvor bereits gewalttätig geworden.
Das Motiv
Der Eritreer hat gegenüber den Frankfurter Behörden ausser seinen Personalien noch keine Angaben gemacht, zum Motiv liegt daher noch keine Erkenntnis vor. Er wird noch am Dienstag dem Haftrichter vorgeführt, ihm wird Mord und zweifacher Mordversuch vorgeworfen. Bei einer Verurteilung droht ihm lebenslange Haftstrafe, wie die Staatsanwaltschaft mitteilte. Momentan werden Zeugen befragt und Videomaterial ausgewertet.
Die Tat spreche dafür, dass man an eine psychische Erkrankung denke, sagte die Frankfurter Oberstaatsanwältin Nadja Niesen an einer Pressekonferenz am Dienstagmorgen. Der Täter werde deshalb im Verlaufe der Ermittlungen auch psychiatrisch begutachtet.
Zum Vorfall im deutschen Wächtersbach, wo ein Eritreer aus rassistischen Motiven schwer verletzt wurde, sieht die Frankfurter Staatsanwaltschaft derzeit keinen Zusammenhang. Im rund 50 Kilometer östlich von Frankfurt gelegenen Ort hatte vor einer Woche ein 55-jähriger Deutscher einen 26-jährigen Eritreer angeschossen und sich später in seinem Auto selber getötet. Die Polizei geht von einem fremdenfeindlichen Grund für den Angriff aus.
Das sagen Experten
Voerde und Frankfurt, zwei Vorfälle in zehn Tagen: In beiden Fällen handelt es sich beim Täter um einen Mann, die Opfer sind Frauen und ein Kind. Was trieb die verheirateten Familienväter dazu, ihnen wildfremde Menschen vor einen Zug zu stossen? Weshalb suchten sie sich gerade diese Opfer aus?
Die Behörden können noch keine Antworten darauf geben. Experten vermuten, dass die beiden Fälle aufgrund der zeitlichen Nähe und der Ähnlichkeit der Tatausführung einen Zusammenhang haben könnten – und der Vorfall von Frankfurt eine Nachahmungstat war. «Es gibt immer wieder Begehungsweisen, die sozusagen in Mode kommen», sagt der Kriminologe Rudolf Egg zu Focus Online.
Auch der Kriminologe Thomas Feltes von der Ruhr-Universität Bochum sieht Parallelen zwischen den beiden Fällen, wie er gegenüber The World News sagt. Er verweist auf den sogenannten Marilyn-Monroe-Effekt, wie das in der Kriminologie bezeichnet werde. Nach deren Selbstmord habe es in den USA verstärkt Nachahmer gegeben, die ebenfalls Suizid begingen. Durch die Berichterstattung über den Mord in Voerde könnte nun auch der Täter von Frankfurt womöglich auf diese Idee gebracht worden sein, sagt der Kriminologe.
Feltes meint zudem, dass ein psychiatrisches Problem des Täters vorliegen könnte. «Flüchtlinge leiden manchmal unter Wahnvorstellungen, die auf Kriegserlebnisse in ihren Heimatländern zurückzuführen sind. Diese Wahnvorstellungen können sich aus heiterem Himmel Bahn brechen».
Der deutsche Kriminologe Christian Pfeiffer, ehemaliger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, vermutet in der Tat von Frankfurt einen Racheakt für den rassistischen Angriff auf einen Eritreer in Wächtersbach, wie er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sagt: «Die Eritreer fürchten sich. Das ist die perfekte Voraussetzung für einen Racheakt. In meinen Augen ist das die plausibelste Erklärung. Er antwortet auf das, was ein paar Kilometer entfernt passiert ist».
Über den fremdenfeindlichen Vorfall in Wächtersbach sei kaum berichtet worden, das habe zu Wut geführt. «Da wird ein Eritreer abgeknallt und die Leute gehen einfach zur Tagesordnung über». Die Eritreer-Szene rund um Frankfurt kenne sich gut und halte zusammen, weiss Pfeiffer. Die Tat im Frankfurter Hauptbahnhof könnte zwar spontan gewesen sein, es könnte sich aber auch um eine geplante Aktion handeln, sagt der Kriminologe.
Die Folgen
Der deutsche Innenminister kündigte an einer Medienkonferenz am Dienstagnachmittag an, dass er mehr Polizeipräsenz an den Bahnhöfen anstrebt und auch mehr Polizisten ausbilden will. Zudem möchte er eine stärkere Videoüberwachung im öffentlichen Raum. Auch andere technische Möglichkeiten müssten geprüft werden, wenn diese ein Mehr an Sicherheit für die Bevölkerung bringen.
In Deutschland warnte der stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jörg Radek, vor Nachahmungstätern. Aus Grossstädten wie Berlin seien Fälle sogenannter S- und U-Bahn-Schubser schon länger bekannt. «Die Polizei versucht sich nach jedem Fall präventiv besser einzustellen. Bei Taten, die vorsätzlich geschehen, stösst sie jedoch an ihre Grenzen», sagte Radek. Angesichts von 5600 Bahnhöfen und Haltestellen in Deutschland dürfe nicht mit schnellen Lösungen gerechnet werden. «Die sind alle so unterschiedlich strukturiert, dass es schwer sein dürfte, ein Konzept für alle zu entwickeln.»
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