Papst äussert sich zur Pandemie«Teile der Menschheit scheinen geopfert werden zu können»
Papst Franziskus sieht durch die Corona-Krise Fragen nach Menschenwürde und Gerechtigkeit verschärft. Er ruft zu neuer «Geschwisterlichkeit» auf – und wendet sich gegen Nationalismus sowie die Ausgrenzung von Flüchtlingen und Alten.

Papst Franziskus hat angesichts der Corona-Pandemie zu einem neuen Sinn der «Geschwisterlichkeit» der Menschen untereinander aufgerufen. Das Zugehörigkeit zu «der einen Menschheit» habe weltweit abgenommen, der Traum von gemeinsamer Gerechtigkeit und Frieden scheine «wie eine Utopie aus anderen Zeiten», schreibt er in seiner Enzyklika «Fratelli Tutti», die an diesem Sonntag veröffentlicht wurde.
Doch Corona habe den Menschen gezeigt, «eine weltweite Gemeinschaft in einem Boot zu sein. Heute sehen wir ein, dass wir uns mit Träumen von Pracht und Grösse ernährt und letztlich doch nur Einsamkeit gegessen haben. Wir haben uns mit ‹Connections› vollgestopft und darüber den Geschmack an der Geschwisterlichkeit verloren», schreibt der Papst. Deutlich wendet er sich gegen Nationalismus und Abschottung.
Franziskus war zur Unterzeichnung des Grundsatzschreibens am Samstag eigens nach Assisi gereist, ans Grab des Heiligen Franziskus. Bereits in seiner letzten Enzyklika, dem vor fünf Jahren veröffentlichten Schreiben mit dem Titel «Laudato Si», nahm Franziskus direkten Bezug auf seinen Namensgeber. Damals lag der Schwerpunkt des Textes auf dem Umwelt- und Klimaschutz und der «Sorge um das gemeinsame Haus». In seiner nun vorgelegten Enzyklika beschäftigt sich Franziskus mit dem politischen und sozialen Klima zwischen den Menschen.
«Ältere Menschen wurden brutal weggeworfen.»
Franziskus arbeitet schon lange an dem Text, die Pandemie hat ihm aber nun eine neue Dringlichkeit verliehen und die Fragen nach Menschenwürde und Gerechtigkeit verschärft: «Teile der Menschheit scheinen geopfert werden zu können zugunsten einer bevorzugten Bevölkerungsgruppe, die für würdig gehalten wird, ein Leben ohne Einschränkungen zu führen», schreibt Franziskus.
Und er wirft ein Licht auf die besonders gefährdeten Älteren: «Wir haben gesehen, was mit den älteren Menschen an einigen Orten der Welt aufgrund des Coronavirus geschehen ist. Sie sollten nicht auf diese Weise sterben. Tatsächlich aber war etwas Ähnliches schon bei mancher Hitzewelle und unter anderen Umständen vorgefallen: Sie wurden brutal weggeworfen.»
Eine Isolierung der älteren Menschen und ihre «Übergabe in die Obhut anderer ohne eine angemessene und gefühlvolle familiäre Begleitung» mache aber die Familie selbst ärmer, schreibt Franziskus.
Bezug auf ein Treffen mit einem Grossimam
Entlang des biblischen Gleichnisses vom Barmherzigen Samariter, der ausgerechnet als fremder Ungläubiger einem Verletzten am Strassenrand half, während Priester und Landsleute vorübergingen – dekliniert der Papst seine Vision von der Nächstenliebe, die keinen Unterschied macht, und der einen gemeinsamen Menschheitsfamilie.
In seinem Text geht er immer wieder auf sein Treffen mit Grossimam Ahmad Al-Tayyib im Februar 2019 in Abu Dhabi zurück. Damals hatten beide bereits eine interreligiöse Erklärung über die «Geschwisterlichkeit aller Menschen» unterzeichnet: Zwischen den Religionen sei ein Weg des Friedens möglich, schreibt Franziskus. Denn «Gottes Liebe gilt für jeden Menschen gleich, unabhängig von seiner Religion.»
In diesem Sinne wendet sich Franziskus auch scharf gegen die Ausgrenzung von Flüchtlingen: «Die Migranten werden als nicht würdig genug angesehen, um wie jeder andere am sozialen Leben teilzunehmen, und man vergisst, dass sie die gleiche innewohnende Würde besitzen wie alle Menschen. Es ist nicht hinnehmbar, dass Christen diese Mentalität und diese Haltungen teilen. Die unveräusserliche Würde jedes Menschen unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion ist das höchste Gesetz der geschwisterlichen Liebe.»
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