
Ein Ombudsmann könnte es sich so leicht machen, wie H. L. Mencken, der legendäre Chefredaktor und Kolumnist der «Baltimore Sun», um 1910 es tat – kurze Zeit bevor ein Konkurrenzblatt die erste Presse-Ombudsstelle der Geschichte einrichtete. Die «New York World» etablierte 1913 ein «Bureau of Accuracy and Fair Play», um Beschwerden der Leserschaft entgegenzunehmen. Um Leuten zu antworten, die sich bei der «Sun» beklagten, liess Mencken Postkarten drucken, auf deren Rückseite schlicht stand: «Dear Sir or Madam. You May Be Right» – Sie haben vielleicht recht.
Nicht immer leicht machen es hingegen einem Ombudsmann Leserinnen und Leser mit ihren Beschwerden. Wobei sie das weder müssen noch sollen. Das Publikumsfeedback ist in einigen Fällen in nüchternem und sachlichem Ton gehalten, in anderen ist es aggressiv und pauschal formuliert. Vereinzelte Reaktionen, mitunter gänzlich ungefiltert und unter der Gürtellinie, treffen auch anonym ein, etwa zu Händen der «Medien-Huren».
2022 sind bei der Ombudsstelle der Tamedia Deutschschweiz rund 210 Reaktionen eingegangen, ähnlich viele wie im Jahr zuvor. Nicht alle Reaktionen sind Beschwerden im engeren Sinn und betreffen journalistische Inhalte oder administrative Belange wie Abos oder Postzustellung. Unter dem Feedback gibt es auch welches, das bei einer psychologisch oder sozial beratenden Instanz besser aufgehoben wäre. Für Beziehungs- oder Steuerfragen ist die Ombudsstelle nicht zuständig.
Die Leserschaft unterscheidet nicht immer zwischen Nachricht und Kommentar und hält das Erste für das Zweite und umgekehrt.
War es vor zwei Jahren noch die Berichterstattung über diverse Aspekte der Corona-Pandemie gewesen, die auffällig viele Beschwerden auslöste, so lässt sich für 2022 kein Thema festmachen, das die Leserschaft im Besonderen verärgert hätte: weder der Krieg in der Ukraine noch die Fussballweltmeisterschaft in Katar, die gendergerechte Sprache oder die Bundesratswahl im November. Auch von Fake News war kaum mehr die Rede.
Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass die Leserschaft nicht immer zwischen Nachricht und Kommentar unterscheidet und das Erste für das Zweite und umgekehrt hält. Geblieben ist auch die Irritation, was die Moderation der zahlreichen Onlinekommentare von Websites betrifft. Ihr wird je nachdem Einseitigkeit, Intransparenz oder Zensur vorgeworfen. Kommentatorinnen und Kommentatoren möchten jeweils wissen, wie Redaktionen «eine faire und sachliche Diskussionskultur» definieren, und fragen sich, was genau an ihren Reaktionen «ehrverletzend, beleidigend oder diskriminierend» sei, wie es im Fall der Ablehnung einer Meinung heisst.
Trost finden verärgerte Leserinnen und Leser allenfalls in einer Erkenntnis, die der Ombudsmann der «Kansas City Star und Times» einst formuliert hat. Donald Jones stellte fest, Kunden könnten saure Milch jederzeit in den Laden zurückbringen und würden dort eine neue Packung kriegen oder ihr Geld zurückerhalten. Doch so, frotzelte er, funktioniere es bei Zeitungen nicht: «Du kannst von Glück reden, wenn sie dir die Milch nicht einfach über den Kopf schütten.»
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Kolumne des Ombudsmanns – Süsses und Saures aus 2022
Was die Leserinnen und Leser im vergangenen Jahr umgetrieben hat.