Starke Stimmen, aparte Bilder
Belcanto-Oper als Sängerfest: «Lucia di Lammermoor» von Gaëtano Donizetti am Theater Basel.

Basel und «Lucia di Lammermoor», das ist eine spezielle Geschichte. Vor 33 Jahren versetzte die blutjunge Sopranistin Eva Lind mit der Titelfigur dieser 1835 entstandenen italienischen Belcanto-Oper die ganze Region in Ekstase. Die Produktion war so erfolgreich, dass man sogar eine Liveübertragung der Inszenierung von Jean-Claude Auvray auf den Münsterplatz wagte.
Es gibt Leute, die heute noch davon schwärmen. Danach ist es – aus welchen Gründen auch immer – ziemlich still um diese Sängerin geworden. Das Schicksal eines frühen Verblühens dürfte der Hauptdarstellerin der neusten Basler «Lucia»-Produktion erspart bleiben. Denn Rosa Feola ist zwar noch jung, aber unerfahren ist sie nicht. Seit acht Jahren ist sie im Operngeschäft und hat Hauptrollen wie Adina, Gilda, Ilia, Susanna, Elvira, Norina verkörpert. Sie hat sich nicht verheizen lassen, kennt ihre Qualitäten wie ihre Grenzen.
Von Letzteren war in der Premiere am Freitag allerdings nichts zu merken: Rosa Feola führte ihren klar konturierten, ausgeglichenen Sopran spursicher durch den Tonraum, intonierte sauber und klang auch in der Höhe nie schrill. Ein Höhepunkt war ihre klug aufgebaute «Wahnsinnsarie», in welcher die Singstimme nahtlos mit der Soloflöte des hervorragend aufgelegten Sinfonieorchesters Basel verschmolz. Auf die originale Glasharmonika wird, wie üblich, zugunsten der Flöte verzichtet. Ebenfalls wie üblich werden einige Arien tiefer gesungen als vom Komponisten notiert. So erklingt Lucias «Spargi d'amaro pianto» im dritten Akt in Es-Dur und nicht in F-Dur. Ein Ohrenschmaus ist das Harfensolo, das der Auftrittsarie der Lucia eine atmosphärisch reizvolle Grundierung gibt.
Donizettis «Lucia» wird gern als Sängeroper bezeichnet, und das ist sie in der von Giampaolo Bisanti ungemein sicher geleiteten Basler Aufführung auch. Der Kontakt zwischen Orchestergraben und Bühne war in der Premiere makellos. Das Theater hat sich in Ermangelung eines eigenen qualifizierten Ensembles auf dem internationalen Sängermarkt bedient und einige vorzügliche Stimmen zusammengeführt, die man in Basel wahrscheinlich nur in dieser Produktion hören wird.
Neben Frau Feola setzt gleich zu Beginn der Bariton Ernesto Petti in der Partie des Lords Enrico Ashton – der machtbewusste Bruder von Lucia – mit seiner starken, frei strömenden Stimme einen bemerkenswerten Akzent. Ein Opernbeginn, der buchstäblich aufhorchen lässt. Als sein intriganter, lügnerischer Untergebener Norman verdient sich Karl-Heinz Brandt Charaktertenor-Meriten.
Lucias Liebhaber Edgardo wird von Fabián Lara mit kräftig aufdrehendem, bisweilen intonatorisch leicht gefährdetem und farblich etwas einförmigem Heldentenor gesungen. Starke Szenen haben der der Lucia aufgezwungene Bräutigam Arturo, dem Hyunjai Marco Lee seinen hellen Tenor leiht, sowie Lucias Erzieher Raimondo, dem Tassos Apostolou mit seinem schwarzen Bass kerniges Profil gibt. Die junge Ena Pongrac gefällt als Alisa.
Ein interessanter Fall
Alisa erscheint in dieser Inszenierung von Olivier Py als Pflegerin und Raimondo als Arzt Lucias. Wir befinden uns von Anfang an in einer psychiatrischen Anstalt. Fotos aus der Klinik des Pariser Pathologen und Neurologen Jean-Martin Charcot legen nahe, in Lucia eine Hysterikerin zu sehen, die mittels Hypnose geheilt werden soll. Unter ihrem Bett rekelt sich eine gehörnte schwarze Figur. Es ist der Dämon, der Schatten, von dem Lucia in einer der ersten Szenen berichtet – das Unbewusste, das in den Tiefen ihrer Seele wühlt, nachdem ihre Mutter ermordet worden ist.
Das Stück wird, einer Opernmode folgend, vom Regieteam ganz in die Psychiatrie verlegt. Einmal mehr sieht man auf der Bühne ein weisses Spitalbett und Personal, das sich um die kranke Lucia kümmert. Gut möglich, dass sich der Regisseur auf die Seite der Antipsychiatrie schlägt und uns die Botschaft vermitteln will, dass Psychiatrie krank macht. Immerhin bleiben uns die obligate Spritze und Zwangsjacke erspart.
Im ersten, wie ein Gemälde wirkenden Bild steht eine Gruppe schwarz gekleideter Männer (glänzend: Theaterchor und Extrachor unter Michael Clark) am Krankenbett und studiert mit kennerhafter Miene Lucias Verhalten, während Pflegerin Alisa eifrig Notizen macht. Ein ästhetisches Bild, zumal die ganze Inszenierung (Bühne und Kostüme: Pierre-André Weitz) mitsamt den gelenkigen Tanz-Dämonen in strengem Schwarz-Weiss gehalten ist. Es fliesst kein Tropfen Blut. Aber macht das auch Sinn?
Lucia erzählt zwar im ersten Akt von ihren Traumvisionen und hat schwer am Tod ihrer Mutter zu kauen, aber verrückt ist sie eigentlich nicht. Sie wird es erst durch die gewalttätige Machtpolitik ihres Bruders Enrico und die ihr aufgezwungene Heirat mit Lord Arturo. Dieser wird in der Basler Inszenierung als Schwuler gezeichnet, was die Erniedrigung Lucias noch verstärkt.
Im dritten Akt heisst es, nachdem Lucia Arturo umgebracht hat, sie habe den Verstand verloren (Raimondo: «della mente la virtude a lei mancò»). Vorher muss sie also noch bei Sinnen gewesen sein. Regisseur Py sieht Lucia indes von Anfang an als Gefangene ihrer Wahnvorstellungen. Immer wieder schaut sie in den Kleiderschrank und schreckt vor den Bildern von Tod und Verderben zurück – Projektionen ihrer Ängste. Wenn aber Lucia von Anfang an geisteskrank ist, rückt die Schuld ihres Bruders in den Hintergrund, und das starke Interesse Edgard von Ravenswoods an ihr wird unglaubwürdig. Warum sollte er sich so für die hysterische Tochter einer verfeindeten Familie engagieren?
Pittoreske Schattenspiele
Die Produktion geizt nicht mit visuellen Reizen – attraktiv sind die Schattenbilder an den schmutzig-weissen Wänden. Hysterie von ihrer pittoresken Seite! Aber es gibt auch unnötige Regie-Einfälle. In Lucias Krankenzimmer flackert das Licht, wie wenn ihre Krankheit die Energieströme in Unordnung brächte. Unfreiwillig komisch ist die Szene mit dem «Halbgott in Weiss» Raimondo, der sich im zweiten Akt als Stellvertreter Gottes in Szene setzt und Frieden verordnet. Bis zum Überdruss lässt der Regisseur die rivalisierenden Männer mit Revolvern hantieren. Bevor sich Enrico und Edgardo zum Duell verabreden, fuchteln beide mit Handfeuerwaffen. Abdrücken wird am Ende nur einer, und das gegen sich selbst: Edgardo, der unterlegene Werber um Lucia.
Das Publikum störte sich nicht an solchen szenischen Ungereimtheiten, liess sich von der vor allem musikalisch gelungenen Aufführung fesseln und spendete lang anhaltenden Beifall.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch