Neues Einwanderungsgesetz in GrossbritannienSo will London neue Arbeitskräfte rekrutieren
Grossbritannien will mit einem Kriterienkatalog nach australischem Vorbild die Einwanderung steuern. Kritik gibt es von der Opposition und der Wirtschaft.

Bereits am Tag vor ihrem Auftritt im Unterhaus machte Priti Patel klar, worum es ihr geht. «Dieser historische Rechtsakt beendet die Freizügigkeit der Europäischen Union», schrieb die britische Innenministerin im «Sunday Express». Zum ersten Mal seit Jahrzehnten werde das Vereinigte Königreich wieder die Macht haben, darüber zu bestimmen, wer in dieses Land komme, erklärte sie. Das Parlament sollte am Montagabend in zweiter Lesung über das neue Einwanderungsgesetz abstimmen. Nachdem sich das Votum wegen der Corona-Krise um mehr als einen Monat verzögert hatte, wollte Patel vor allem ein Signal setzen: Die Regierung lässt sich wegen der Pandemie nicht von ihrem Brexit-Kurs abbringen.
Punktesystem vorgesehen
Die Frage der Einwanderung hatte das Referendum über den EU-Austritt vor vier Jahren dominiert. Der Slogan der Leave-Kampagne hiess «Take back control» – und damit war besonders die Kontrolle über die britischen Grenzen gemeint. Nun will die Regierung dieses Versprechen einlösen. Nach der Brexit-Übergangsphase, die noch bis Ende des Jahres dauert, soll es ein Punktesystem nach australischem Vorbild geben. Demnach müssen Einwanderungswillige nicht nur gute Englischkenntnisse nachweisen, sondern auch ein Jobangebot vorlegen, das zeigt, dass sie mindestens 25’600 Pfund (etwa 30’000 Franken) im Jahr verdienen. Bei besonders dringend benötigten Fachkräften wie Krankenschwestern liegt die Einkommensschwelle bei 20’480 Pfund (etwa 24’000 Franken).
Die britische Wirtschaft kritisiert das Gesetzesvorhaben, seit es im Februar von Patel vorgestellt worden ist. Viele Firmen warnen davor, dass ihnen schlicht und einfach Mitarbeiter fehlen werden; denn gerade für nicht so gut bezahlte Jobs mangelt es in vielen Branchen an britischen Bewerbern. Die Labour Party wirft der konservativen Regierung vor, den Ernst der Lage zu verkennen. Gerade die Corona-Krise habe vor Augen geführt, wie sehr das Land auf die Arbeitskraft von Menschen aus dem Ausland angewiesen sei, hiess es vonseiten der Opposition.
Das scheint auch Patel bewusst zu sein. Die Innenministerin lobte jedenfalls die Mitarbeiter in den Supermärkten, die unermüdlich mitgeholfen hätten, «unsere lebenswichtigen Dienstleistungen am Laufen zu halten». Auch unter ihnen befinden sich viele Einwanderer. Dennoch ist die Vorgabe der Regierung klar: Arbeitgeber sollen sich von nun an darauf konzentrieren, einheimische Arbeitskräfte einzustellen – statt jene aus dem Ausland. Neben dem Gesundheitswesen dürfte dies insbesondere die Gast-, Land- und Bauwirtschaft betreffen. Denn mit dem Gesetz werden vor allem Servicekräfte, Bauarbeiter und selbstständige Handwerker aus der EU, die einen Grossteil der Neuzuwanderer ausmachen, daran gehindert werden, sich ein Leben in Grossbritannien aufzubauen.
Keine Vorzüge für EU
Um einen drohenden Engpass an medizinischen Fachkräften zu verhindern, will die Regierung ein sogenanntes Fast-Track-Visum einführen. Wer einen Job im nationalen Gesundheitsdienst NHS in Aussicht hat, soll binnen weniger Tage Bescheid bekommen, ob er im Königreich willkommen ist. Bereits vergebene Visa für NHS-Mitarbeiter und deren Familien sollen automatisch verlängert werden.
EU-Bürger, die vor dem Ende der Brexit-Übergangsphase einen britischen Wohnsitz haben, erhalten ein befristetes oder unbegrenztes Aufenthaltsrecht. Sie müssen dafür einen Antrag beim Innenministerium stellen. Tritt das neue Einwanderungsgesetz wie geplant zum Jahreswechsel in Kraft, geniessen EU-Bürger keine Vorzüge mehr. Im Gegenzug verlieren britische Staatsbürger das Recht, sich frei in allen EU-Staaten niederzulassen und zu arbeiten. Für sie gilt dann das nationale Ausländerrecht des jeweiligen Landes.
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