Chelsea Mannings AutobiografieSie war doppelt gefangen: Im Gefängnis und im Körper eines Mannes
Ein wohltuend nüchternes Plädoyer dafür, der Welt sein wahres Ich zu zeigen: Die Memoiren der Whistleblowerin Chelsea Manning.

Als Chelsea Manning im Mai 2018 die Hauptbühne der Digitalkulturkonferenz Republica in Berlin betrat, war da eine Stille, die in der Erinnerung derer, die dabei waren, immer tiefer und andächtiger wird. Leuchtende Displays und das elektrisierende Gefühl, dass die Kameraobjektive ein Stückchen Weltgeist aufsaugen. Es war Mannings erster Besuch ausserhalb der USA seit der Haftentlassung.
Ein Jahr zuvor hatte der scheidende Präsident Barack Obama ihr den Rest der 35-jährigen Haftstrafe erlassen, die sie absass, weil sie als im Irak stationierte Militäranalystin geheime Dokumente der amerikanischen Armee veröffentlicht hatte. Manning hatte die Wahrheit über die Kriege in Afghanistan und Irak enthüllt, und die Wahrheit hatte die Diskussion in den amerikanischen Medien über diese Militäreinsätze verändert.
Der Vater war Alkoholiker, ehemaliger Navy-Offizier und schnell mit dem Gürtel bei der Hand, wenn die Kinder nicht spurten, die Mutter trank sich aus der Welt hinaus, in der sie nie richtig Fuss fasste.
«Man muss Chelsea Manning nicht als Heldin sehen», schrieb der «Spiegel» nach ihrer Begnadigung. Heisst im Umkehrschluss: aber man kann. So viel zur Frage, warum man Chelsea Mannings nun erschienene Autobiografie «README.txt» lesen sollte. Ihr Buch ist ein wohltuend nüchternes Plädoyer dafür, der Welt sein wahres Selbst zu zeigen, aber auch seine Vorstellungen, wie die Welt sein sollte, in die Tat umzusetzen. Das Ich und die Spur, die es in der Welt hinterlässt – Identitätspolitik und Identitätsaussenpolitik –, gehören zusammen. Ganz besonders bei Chelsea Manning, die doppelt gefangen war, wie sie an einer Stelle schreibt: im Körper eines Mannes und im Gefängnis einer Staatsgewalt, die sie herausgefordert hatte.
Mannings lange verheimlichte Geschlechtsidentitätsinkongruenz bildet den einen Strang des Buches. Das ländliche Oklahoma, in dem sie «auf gut zwei Hektaren Land in einer schmalen Senke direkt am Oklahoma State Highway 74» aufwuchs, war für eine junge Frau im Körper eines jungen Mannes von Anfang an feindliches Terrain. Der Vater war Alkoholiker, ehemaliger Navy-Offizier und schnell mit dem Gürtel bei der Hand, wenn die Kinder nicht spurten, die Mutter trank sich aus der Welt hinaus, in der sie nie richtig Fuss fasste. Da war kein Geld, nur «eine Wolke aus Selbstverachtung», Computerspiele, Herumtrollen im Internet, Allmachtsgefühle hinter Pseudonym, immaterielle Überlegenheit im Cyberspace, zeitweise Obdachlosigkeit. Manning floh ins Militär, in die Uniform, die den Körper gerade macht, um endlich Ruhe vor ihm zu haben.
Agenten der Zerstörung
Der zweite Strang ist die Inkongruenz zwischen den Bildern des Kriegs in den Fernsehnachrichten und dem blinden Chaos der Gewalt, das Manning täglich als Analystin nachrichtendienstlicher Informationen auf ihrem Bildschirm sichtete – das sie, schlimmer noch, erzeugen half. «Es war, als wären die Tragödien und Schlachten ein Muster der Natur, schockierend und doch völlig vorhersehbar, wie die Gezeiten oder der Sonnenstand oder das Wachstum der Pflanzen. Aber das Chaos ging von uns aus, den Agenten der Zerstörung.»
Der Job passte zu jemandem, der es gewohnt war, solche Inkongruenzen auszuhalten. «Innerlich Distanz wahren konnte ich gut», schreibt sie, da es «Leuten wie mir offiziell verboten war, sich im Dienst offen zu sich selbst zu bekennen». Im US-Militär galt noch die «Don’t ask, don’t tell»-Doktrin: Man durfte von der sexuellen Norm abweichen – aber es nicht zeigen oder mit irgendjemandem darüber reden.

Der Stil des Buchs ist Zeugnis dieses Trainings zur Distanz. «Mehr Feuer», feuerten sie die Redaktoren der Zeitungen an, für die sie vom Gefängnis aus Gastbeiträge verfasste. Mehr Feuer hätte auch dem Buch an einigen Stellen sicher nicht geschadet. Bisweilen schreibt sie über Tod, Verzweiflung, ihre Suizidversuche, darüber, wie sie in Isolationshaft anfing, «zu lallen, zu schreien und den Kopf gegen die Wand zu schlagen», als verfasse sie einen militärischen Bericht an ihre vorgesetzten Offiziere. Es dauert eine Weile, bis man die Queerness dieser Distanziertheit zu spüren beginnt – bis man anfängt, sich Gedanken über die Queerness des Militärs zu machen, das zum männlichen Körper ein ähnlich lustvoll abstinentes Verhältnis pflegt wie der Katholizismus zum weiblichen.
Es sind die schrägen Bilder des Krieges, die hängen bleiben: wie Manning im Irak jeden Abend von ihrem Wohncontainer zu einer als Sicherheitsbereich umfunktionierten ehemaligen Basketballhalle geht, auf einem Matschweg, «vorbei an einem riesigen, unablässig dröhnenden Stromgenerator und mehreren MRAPs, minensicheren Transportern, die uns überragten wie die Kampfläufer auf Tatooine», in einen schwach beleuchteten, fensterlosen, mit Kabeln vollgestopften Raum – das Herz der Finsternis des 21. Jahrhunderts. Nur echt mit «Star Wars»-Referenz.
«Während mein neuer Körper Gestalt annahm, klärte sich mein Geist, und ich wurde innerlich freier.»
Manning weidet solche Motive nicht aus, ihre Selbsterkundung ist kein postmoderner Feldzug der Sprache. Sie ist mehr an Fakten als an Sprache interessiert, sowohl am «Dammbruch» eines queeren Selbst als auch am Coming-out einer geheimen, chaotischen Wirklichkeit der Welt. Sie reduziert das eine aber nicht auf das andere. Manning wurde ihrer Lesart zufolge nicht zur Whistleblowerin, weil sie daran litt, ihr wahres Geschlecht verheimlichen zu müssen. «Die Wahrheit ist: Trotz aller Belastungen, die wahrscheinlich in gewisser Weise dazu beigetragen haben, tat ich, was ich tat, weil ich sah, was ich sah, kurz: wegen der Werte, an die ich glaube und vertrete.»
Mannings Buch enthält viele dunkle Passagen. Die Schilderungen des durch sie als «Collateral Murder» bekannt gewordenen Videos etwa: zwei amerikanische Helikopter, die das Feuer auf eine Gruppe am Boden eröffnen und die Menschen niedermähen, weil sie die Fotokameras zweier Reuters-Journalisten für Granatwerfer halten, bevor sie mit panzerbrechender Munition auf einen Van schiessen, der den Verwundeten zu Hilfe eilt. Auf dem Rücksitz werden zwei Kinder verletzt. «Die sind doch selbst schuld, wenn sie Kinder mit in den Kampf nehmen», sagt ein Soldat im Helikopter.
Hormontherapie – als erste amerikanische Militärgefangene
Und doch gibt es die Hoffnung – die Hoffnung auf Wahrheit. «Während mein neuer Körper Gestalt annahm, klärte sich mein Geist, und ich wurde innerlich freier», schreibt Manning. Nach langen bürokratischen Widerständen konnte sie als erste amerikanische Militärgefangene überhaupt eine Hormontherapie beginnen. Das Leak war erschienen. Die Welt hörte nun zu. «Ich fing an, darüber nachzudenken, wie ich mich kleiden würde, wenn ich rauskam: praktische Kleider und Utility-Gürtel, dazu Springerstiefel, um zu signalisieren, dass ich mich zu wehren wusste.»
Als Chelsea Manning zur Republica nach Berlin reiste, da befand sie sich schon ein Jahr in ihrem persönlichen Happy End. Sie sass da, leicht lächelnd, mit geschminkten Lippen, die langen blonden Haare zurückgebunden, in dieser grossen, tiefen Stille, dann im brandenden Applaus, in Springerstiefeln.
Chelsea Manning, README.txt, Meine Geschichte, Harper-Collins-Verlag, 336 Seiten, ca. 35 Franken.
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