Sie sucht nach Fehlern im Schlaf
Wer träumen will, muss schlafen. Wer Probleme damit hat, landet in Zürich bei Esther Werth. Sie weiss, was das Hirn in der Nacht leistet.

Man nehme sich ein Beispiel am Faultier. Es verschläft den ganzen Tag. Im Schlaflabor am Universitätsspital hockt ein zotteliges Exemplar in Plüsch im Regal. Es schaut still zu, wie die Mitarbeiterinnen im Kontrollraum anderen beim Schlafen zuschauen. Auf Bildschirmen flimmern die Bilder der Infrarotkameras aus den beiden stockdunkeln Räumen links und rechts, übertragen Mikrofone Schnarchgeräusche, zeichnen Hirnströme farbige Kurven auf die Screens: Hier wird der Schlaf von Patientinnen und Patienten vermessen.
Mit den Daten, die in der Nacht erfasst werden, befasst sich Esther Werth. Die Somnologin leitet das klinische Schlaflabor der neurologischen Klinik am Universitätsspital. Die Kurven und Zahlen – und manchmal auch die Bilder der Überwachungskameras – zeigen: Schlafen ist etwas sehr Aktives. Seit den 30er-Jahren erlaubt es die Elektroenzephalografie, während des Schlafs «in den Kopf hineinzuschauen», seither hat man eine Idee, was das Hirn in der Nacht leistet: Emotionen verarbeiten, Stress abarbeiten, Wissen festigen. Und man weiss auch: Es gibt im Hirn keinen «Schlafschalter», den man einfach kippen kann. Schlafen passiert überall. Das macht Schlafen so komplex – und aus Sicht von Wissenschaftlerinnen wie Esther Werth so interessant.
Eine ermüdende Partitur
Die Somnologin vergleicht den Schlaf mit einer anspruchsvollen Partitur. «Zu einem guten Schlaf tragen ganz viele Faktoren bei, die gut zusammenspielen müssen.» Da geht es um Botenstoffe, um Vernetzung, um eigenes Verhalten, aber auch um körperliche Faktoren wie die Atmung. «Es ist wie ein Orchester, das harmoniert. Oder eben nicht.»

Oder eben nicht: Das Schlaflabor des Unispitals ist gut ausgelastet, fast jeden Tag schlafen in den beiden Räumen Patientinnen und Patienten unter Aufsicht. Viele Leute leiden unter Schlafstörungen. Und es werden tendenziell mehr – das ist ein persönlicher Eindruck, den Esther Werth bestätigt. Menschen haben vermehrt Mühe damit, ein- oder durchzuschlafen. Stress ist laut Werth ein möglicher Grund, ebenso die 24-Stunden-Gesellschaft, das Smartphone, psychische Erkrankungen, die sich oft auch in Schlafstörungen manifestieren.
«Das Bett nur zum Schlafen brauchen. Damit die Aufgabe für den Körper klar ist: Im Bett wird geschlafen.»
Auf der anderen Seite gewinnt der Schlaf an Bedeutung zurück. «Die Zeiten, in denen Manager prahlen, mit wenig Schlaf auszukommen, sind vorbei», sagt Werth. Schlaf galt eine Zeit lang als etwas Lästiges – mit Folgen: Untersuchungen haben gezeigt, dass chronischer Schlafmangel Auswirkungen auf unser Verhalten hat. Unerwünschte. «Schlaflose» Menschen werden risikofreudiger – und dies, ohne es bewusst wahrzunehmen. «Das kann gefährlich werden», sagt Werth, «weil das Risikobewusstsein abhandenkommt.»
Wird der Schlaf zum Problem, kann eine Nacht im Schlaflabor helfen: Das sind zwei karge Räume, getrennt durch den Überwachungsraum. Mit Ausnahme der zwei Glubschaugen, der Kameras an der Decke, und dem Infrarotstrahler in der Ecke unterscheiden sie sich kaum von einem normalen Spitalzimmer. Die Räume lassen sich komplett abdunkeln, sind schallisoliert und klimatisiert. Keine äusseren Faktoren sollen den Schlaf stören. Die Patientinnen und Patienten werden verdrahtet. Ihre Hirnströme werden ebenso registriert wie ihre Augenbewegungen, die Muskelanspannung, die Atmung oder der Sauerstoffgehalt im Blut.
Im Bett wird geschlafen!
Anhand der Daten macht sich Esther Werth auf die Suche nach dem «kleinsten Fehler im Orchester», der die Harmonie stört. Sie scrollt sich durch die erfassten Werte, durch die Schlafphasen, und sucht Antworten auf die Fragen: Wie ist der Schlaf gestört? Wo ist er gestört? Was ist die Ursache? Wie relevant ist die Störung? Manchmal ist es verblüffend: Im Schlaflabor schlafen die Leute besser als zu Hause, trotz all der Kabel – das zeigen neben den erfassten Daten auch die persönlichen Gespräche nach dem Aufwachen. Eine mögliche, überraschende Ursache: Der Schlaf nimmt im Alltag zu viel Platz ein. Dann entsteht Stress, «weil man eben unbedingt und unbedingt gut schlafen muss».
Die Wissenschaft unterscheidet zwischen mehr als 80 Arten von Schlafstörungen. Esther Werth teilt sie grob ein.
Insomnie: «Insomnie steht für Ein- und Durchschlafstörungen. Wer abends eine Stunde oder länger wach im Bett liegt, empfindet dies oft als störend. Wenn der Schlaf durch längere Wachphasen unterbrochen wird, dann wird dieser oft als nicht erholsam eingestuft. In der Schlafsprechstunde wird nach Ursachen gesucht und entschieden, ob eine Nacht im Schlaflabor helfen kann.»
Hypersomnie: «Man fühlt sich trotz ausreichendem und gutem Schlaf am Morgen nicht ausgeruht. Am Tag muss gegen das Einschlafen angekämpft werden. Hier braucht es oft eine Nacht im Schlaflabor, um die Ursache zu finden. Das könnte zum Beispiel eine Schlafapnoe mit Atemaussetzern sein: Im Zustand der kompletten Entspannung können sich die Atemwege verengen oder gar ganz blockieren. Der Körper erhält dadurch zu wenig Sauerstoff und reagiert mit einer kurzen Aufwachreaktion, welche die Atmung wieder normalisiert. Der Schläfer selbst bemerkt diese kurze Aufwachphase oft nicht; ihm erscheint der Schlaf als ungestört. Ein weiteres Krankheitsbild ist die Narkolepsie. Die neurologische Erkrankung äussert sich durch exzessive Schläfrigkeit am Tag mit Einschlafattacken. Hier werden wichtige Hirnbotenstoffe nicht mehr produziert, die zuständig sind für eine andauernde Wachheit.»
Parasomnie: «Der Bettpartner oder die Bettpartnerin bemerkt diese Art von Schlafstörung oft als Erstes. Dabei handelt es sich um Bewegungsstörungen im Schlaf. Die Schlafart, aus der die Störung hervorgeht, ist für die Diagnosestellung wichtig und muss im Schlaflabor untersucht werden. Es gibt zwei Grundzustände des Schlafs. REM-Schlaf und NonREM-Schlaf. REM steht für Rapid Eye Movement, die Augen bewegen sich hinter den geschlossenen Lidern. REM-Schlaf ist oft mit Träumen verbunden. In einigen Fällen werden Träume ausagiert, da die Muskulatur nicht vollständig entspannt werden kann. Oder es kommt zu einem partiellen Erwachen. Der Bewegungsapparat ist auf Wach eingestellt, der Rest des Gehirns ist noch im Schlafmodus, so können Schlafende aufstehen und komplexe Handlungen vornehmen. Es gibt Fälle mit Verletzungen des Schläfers oder des Bettpartners.»
Schlaf-Wach-Störungen durch ungeeignete Schlafzeitfenster: «Zum Beispiel als Folge von Schichtarbeit. Im Normalfall ist unsere innere Uhr mit dem Tag-Nacht-Rhythmus synchronisiert, sodass unser Schlaf in der Nacht am erholsamsten ist. Fehlt diese Synchronisation, kommt der Schlaf aus dem Takt. Beim Jetlag spürt man dies deutlich. Es braucht jeweils ein paar Tage, bis sich die innere Uhr an den neuen Tag-Nacht-Rhythmus angepasst hat. Schichtarbeit verträgt nicht jeder gleich gut.»
Medikamente vermeiden
Die Fehlersuche hat immer zum Ziel, die Schlafstörung möglichst ohne klassische Schlafmittel zu beheben; diese sind problematisch, weil sie schnell abhängig machen. Manchmal kann die Lösung sein, regelmässiger ins Bett zu gehen und mehr zu schlafen, manchmal aber auch weniger lang im Bett zu bleiben. Manchmal hilft es, drei Tennisbälle ins Pyjama zu nähen oder mit einem kleinen Rucksack zu schlafen, um die Rückenlage zu verhindern. Manchmal ist eine Beatmungsunterstützung oder sogar ein operativer Eingriff nötig – etwa weil während des Schlafs die Atemwege blockiert werden.
Die Sommerserie handelt vom Träumen. Wer träumen will, muss schlafen. Esther Werth, haben Sie uns einen Tipp, damit wir gut schlafen? «Das Bett nur zum Schlafen brauchen. Damit die Aufgabe für den Körper klar ist: Im Bett wird geschlafen. Und nicht: Im Bett wird gegessen, ferngeschaut, auf dem Smartphone gespielt – und dann eben auch noch geschlafen.»

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