Sie brannte für Farben und Formeln
Marlow Moss war lesbisch, modebewusst und Mathematikfan. Und sie schuf ein malerisches Werk, das sogar Piet Mondrian inspirierte.

Mit 30 hatte sie es satt, ein Schmuckstück zu sein. «Marjorie» hatten ihre Eltern sie getauft – was im Altgriechischen «Perle» bedeutet –, und ihr obendrein den Zweitnamen «Jewel» verpasst. Damit war jetzt Schluss. Fortan würde sie Marlow heissen und nie wieder Röcke und Rüschenblusen tragen. Stattdessen: Reiterhose, Frack, Krawatte. Etwas Pomade ins kurz geschnittene Haar geschmiert – und fertig war Marlow Moss, die Dandy-Dame.
Den stilvollen Auftritt beherrschte sie als Tochter eines exklusiven Tuchhändlers aus Kilburn, London, aus dem Effeff. Zudem war das Herrentenue ganz praktisch für das Leben im windig-ländlichen Cornwall am südwestlichsten Zipfel Englands, wo die junge Frau nach einem happigen Nervenzusammenbruch einen Neustart wagte. Vier Jahrzehnte später würde man hier ihre Asche ins Meer streuen. Erst aber wartete eine Reise auf Marlow Moss, im geografischen wie im künstlerischen Sinne – zu der sie, gewissermassen, von Marie Curie angestiftet wurde: Die Lektüre von deren Biografie war es, die Moss realisieren liess, dass sie nach dem Ausbrechen auch noch aufbrechen musste, um ihr wahres Ich zu finden. Und wenn jemand 1927 Künstler war und auf der Suche nach sich selbst, dann konnte es nur ein Ziel geben: Paris.
Dass die 08/15-Malerei nicht ihr Ding war, hatte Moss schon im heimischen London begriffen (und nach wenigen Monaten die Kunstschule geschmissen, deren Besuch sie sich zuvor mühsam bei den Eltern erbettelt hatte). Nun, in Paris, unter den kubistischen Fittichen des Monsieur Fernand Léger, konnte sie endlich nach Herzenslust abstrakt sein. Richtig Feuer fing sie aber erst, als sie den radikal minimalistischen Gemälden von Piet Mondrian begegnete, der damals ebenfalls in der französischen Hauptstadt lebte.

Reduktion auf die Grundfarben Rot, Blau und Gelb, dazu viel Schwarz und Weiss: Das war Marlow Moss' neue Welt. Nur die intuitive Arbeitsweise Mondrians ging ihr gegen den Strich. Statt, wie er, optische Sinneseindrücke als Ausgangspunkt zu nehmen und sie in ein rechtwinkliges Linienraster zu «übersetzen», baute Moss ihre Gemälde knallhart auf mathematischen Formeln auf. Als sie das Mondrian in einem Brief darlegte, meinte der allerdings nur trocken: «Zahlen sagen mir nichts.» Wer im Haus Konstruktiv, wo Marlow Moss' Werk nun erstmals in der Schweiz zu sehen ist, ganz nah an die Exponate herantritt, kann auf manchen Bleistiftskizzen die mit geschwungener Schrift notierten Zahlen entziffern, welche die exakten Grössenverhältnisse zwischen Linien und Farbfeldern vorgaben. Dann wieder muss man weit von den Wänden weg stehen, damit sich auf den Gemälden das Zusammenspiel von Farbe und Form voll entfalten kann. Und obwohl man es besser weiss, raunt eine Stimme im Kopf permanent: Mondrian!
Immerhin ist man mit dieser Falschzuschreibung in guter Gesellschaft: Max Bill höchstpersönlich hatte, als er als Mittzwanziger Moss an einer Vernissage traf, die schönen «Mondrians» an den Wänden gelobt – und musste sich mit hochrotem Kopf korrigieren lassen.
Bis heute ist unklar, wie viel Mondrian wirklich in Moss steckt – und umgekehrt. Obwohl sich hier, kunsthistorisch betrachtet, ein Schwergewicht und ein Nobody gegenüberstehen, deuten manche Indizien darauf hin, dass der Einfluss durchaus gegenseitig war: So soll sich der Holländer bei Moss die parallele Doppellinie abgeguckt haben, ein Gestaltungselement, das in ihren Bildern schon 1931 auftaucht, in seinen jedoch erst ein Jahr später. Ob sich Mondrian da wirklich bei Moss bediente, wird wohl nie schlüssig geklärt werden. Sicher ist indes, dass sie es bei ihm nicht tat, wenn es um ihre Skulpturen geht: Jedenfalls kennt man von Mondrian kein vergleichbar entzückendes Werk wie jenes Messingfigürchen, dessen aus geometrischen Figuren bestehender Körper sich beim Drumherumlaufen fast kaleidoskopartig verändert und, je nach Lichteinfall, mal in hellstem Gelb, mal in dunkelstem Gold schimmert. Wie fast alles, was nun im obersten Stock im Haus Konstruktiv versammelt ist, entstand die Figur nach dem Zweiten Weltkrieg. Das meiste, was Moss davor geschaffen hat, ging verloren, als die Nazis ihr Atelier in der Normandie zerbombten. Da war die Künstlerin schon längst über alle Berge. Unmittelbar nach Ausbruch des Kriegs hatte sie, die Jüdin war, ihre Siebensachen gepackt und war geflüchtet. Erst nach Holland, in die Heimat ihrer Lebenspartnerin Antoinette «Nettie» Nijhoff (die sie in Paris dem Schriftsteller Martinus Nijhoff ausgespannt hatte), dann, als der Schrecken sich ausbreitete, heim nach England.
Alles nur erfunden?
Zusammen mit Nettie liess sie sich wieder in Cornwall nieder, wo das Paar neugierig, aber herzlich aufgenommen wurde. Ein Anwohner, der als Bub gern mal durchs Fenster ins Atelier lugte, erinnert sich, wie Moss in ihrem Gentleman-Outfit «unaufhörlich durch den Raum schritt. Sie hielt kurz inne, malte ein gerade Linie, dann lief sie weiter, hielt wieder an, malte ein Rechteck.»
Linien, Rechtecke: Sie sollten der Hauptbestandteil von Marlows Malerei bleiben, auch wenn sie bisweilen mit der dritten Dimension kokettierten. Auf manchen Leinwänden ersetzen Schnüre oder schmale Holzleisten die gemalten Linien. Wirklich spektakulär ist das, jedenfalls fürs heutige Auge, nicht (wenn man auch zugeben muss, dass es gut gealtert ist). Aber Moss ging es auch nie um den Schock, den ihre radikale Bildsprache bisweilen auslöste – sondern um das, was zurückblieb, nachdem dieser abgeklungen war: eine zeitlose Ästhetik, unaufdringlich und unverwechselbar zugleich. Für eine kleine Sensation war sie dann aber doch noch verantwortlich: als ihr Werk Mitte der 90er plötzlich wiederentdeckt wurde, nachdem man Moss nach ihrem Tod praktisch komplett vergessen hatte. Das Auftauchen einer Konstruktivistin von Weltformat erwischte sogar Experten eiskalt: Als die erste postume Marlow-Moss-Schau im südenglischen St. Ives gezeigt wurde, witzelte ein Kunstkritiker, die Kuratoren müssten sie frei erfunden haben. Er meinte es wohl nur halb scherzhaft.
Bis 7. Mai im Haus Konstruktiv Zürich.
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